Neunter Artikel. Über die Zulässigkeit von äußeren Zeichen und Werken der Feindesliebe.
a) Es ist notwendig, äußere Zeichen der Feindesliebe zu geben. Denn: I. 1. Joh. 3. heißt es: „Laßt uns nicht mit Worten allein lieben, sondern in der That und in der Wahrheit.“ II. Matth. 5. setzt der Herr zum Gebote der Feindesliebe sogleich hinzu: „Thut Gutes denen, die euch hassen.“ III. Gregor der Große sagt (hom. 30. in EvgI.): „Die Liebe Gottes wirkt Großes, wo sie ist; wo sie müßig ist, da besteht sie überhaupt nicht.“ Kraft der Liebe Gottes aber wird der Nächste geliebt. Also muß die Feindesliebe, soll sie überhaupt vorhanden sein, sich im Werke äußern. Auf der anderen Seite schreibt Augustin (Enchir. 73.): „Wohlthun den Feinden ist die Spitze der Vollkommenheit;“ also ist es mit Notwendigkeit in der Feindesliebe nicht eingeschlossen.
b) Ich antworte, die äußeren Zeichen und Werke entsprechen der inneren Verpflichtung. Nun ist die Liebe zum Feinde im allgemeinen wohl schlechthin vorgeschrieben; besondere Liebe aber zu einer bestimmten Person ist nicht vorgeschrieben, außer insoweit die innere Bereitwilligkeit der Seele in Betracht kommt. Es giebt also demgemäß einzelne Zeichen und Werke, welche dem Nächsten gegenüber gemeinhin in Gebrauch sind; wie z. B. das Beten für alle Gläubige, für das ganze Volk, oder eine Wohlthat, welche der ganzen Gemeinschaft erwiesen wird; dergleichen Werke und Zeichen müssen mit Notwendigkeit auch den Feinden gegenüber geschehen. Das Gegenteil wäre Rache, wogegen Lev. 19. es heißt: „Sinne nicht auf Rache; sei nicht eingedenk des dir vom Nächsten angethanenen Unrechts.“ Andere Wohlthaten oder Zeichen der Liebe äußern sich bloß gegenüber einzelnen besonderen Personen. Und dergleichen den Feinden gegenüber kundzugeben, ist nicht notwendig zur Liebe gehörig; sondern nur der inneren Bereitwilligkeit gemäß, daß nämlich im Falle der Notwendigkeit es geschehe, nach Prov. 25.: „Wenn dein Feind hungert, speise ihn.“ Was außerhalb eines solchen Falles der Notwendigkeit steht, gehört zur vollendeten Liebe, wozu keiner verpflichtet ist. Durch solche Liebe hütet sich nicht nur der betreffende, sich selber vom Bösen überwinden zu lassen; sondern er überwindet im Guten das Böse, er sucht den Feind durch Wohlthaten zu seiner Liebe zu ziehen.
c) Damit beantwortet.
