Vierter Artikel. Der Mensch muß sich selbst aus heiliger Liebe lieben.
a) Dem widerspricht: I. Gregor der Große (17. hom. in Evgl.): „Liebe kann nur zwischen Zweien sein.“ II. Die Freundschaft schließt in ihrem Wesen die Gegenliebe ein; was mit Rücksicht auf sich selbst nicht statthaben zu können scheint. Die heilige Liebe aber ist eine Freundschaft. III. Was zur heiligen Liebe gehört, ist niemals tadelnswert; denn „die Liebe handelt nicht schlecht.“ (1. Kor. 13.) Sich selbst lieben aber ist tadelnswert, nach 2. Tim. 3.: „In den letzten Tagen werden gefahrvolle Zeiten kommen und wird es Menschen geben, die sich selbst lieben.“ Auf der anderen Seite sagt Lev. 19.: „Du sollst deinen Freund lieben wie dich selbst.“ Den Freund aber als solchen lieben wir aus heiliger Liebe.
b) Ich antworte, da die heilige Liebe eine Freundschaft ist, so könne man über dieselbe sprechen zuvörderst unter dem Gesichtspunkte der Freundschaft im allgemeinen; und danach hat man mit Rücksicht auf sich selbst etwas mehr wie Freundschaft. Denn Freundschaft schließt Einigung ein; nach Dionysius (4. de div. nom.): „Die Liebe ist eine einigende Kraft.“ Mit sich selbst aber hat jeder eine höhere Einheit, wie mit einem anderen. Wie also die Einheit das Princip der Liebe ist, so ist die Liebe zu sich selbst die bildende Form und die Wurzel der Freundschaft. Denn darin besteht unsere Freundschaft zu anderen, daß wir zu ihnen uns verhalten wie zu uns selbst, nach 9 Ethic. 4. et 8. So hat man auch betreffs der allgemeinen Grundprincipien keine Wissenschaft, sondern etwas Höheres: nämlich reines Verständnis. Sodann kann man über die heilige Liebe sprechen gemäß ihrem eigentlichen Wesenscharakter, soweit sie nämlich Freundschaft mit Gott ist und mit allem Anderen unter dem Gesichtspunkte, daß es zu Gott gehört. Darin findet sich aber auch der Mensch selber, der da liebt; und so liebt er zugleich mit allem Anderen um Gottes willen auch sich selbst.
c) I. Gregor spricht von der Freundschaft im allgemeinen. II. Ebenfalls. III. Die sich selbst lieben, werden da getadelt, weil sie sich gemäß ihrer sinnlichen Natur lieben, der sie gehorchen; und für sich selber nicht die der Vernunft entsprechenden Güter wollen, welche die vernünftige Seele vollenden.
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