Zweiter Artikel. Zur heiligen Liebe müssen wir aus Liebe Zuneigung haben.
a) Dies ist zu leugnen. Denn: I. Was zu lieben ist, geben die zwei Gebote der Liebe an, nach Matth. 22. Darin steht aber nichts, daß man die Liebe lieben soll. II. Die heilige Liebe ist begründet in der Gemeinsamkeit der Seligkeit. Die Liebe aber ist nichts, was teilhätte an der Seligkeit. III. Die heilige Liebe ist eine Freundschaft. Niemand aber kann Freundschaft haben zu der Liebe, wie überhaupt zu einer Eigenschaft; die ja nicht wiederlieben kann. Auf der anderen Seite sagt Augustin (8. de Trin. 8.): „Wer den Nächsten liebt, der muß notwendigerweise die Liebe selbst lieben.“
b) Ich antworte, die heilige Liebe sei eine Zuneigung. Eine solche aber schließt es infolge der Natur des Vermögens, dem sie angehört, in sich ein, daß sie zu sich selber zurückkehren und über sich selbst sich ausbreiten kann. Denn weil der Gegenstand des Willens das Gute im allgemeinen ist, so kann was auch immer den Charakter des Guten trägt, unter die Thätigkeit des Willens fallen; und weil das thatsächliche Wollen selber etwas Gutes ist, so kann der Wille wollen, daß er wolle. So erkennt ja auch die Vernunft, deren Gegenstand das Wahre ist, daß sie überhaupt erkenne; denn dies ist etwas Wahres. Die Liebe nun ist eine freiwillige Bewegung des Liebenden zum geliebten Gegenstände hin. Also deshalb selber daß jemand liebt, liebt er, daß er liebe. Nun hat die heilige Liebe noch dieses Eigene, daß sie den Charakter der Freundschaft trägt. Kraft der Freundschaft aber wird etwas geliebt in doppelter Weise: einmal wie der Freund selber, dem wir Gutes wollen; und dann wie ein Gut, was wir dem Freunde wollen. Auf diese letztere Weise also wird die heilige Liebe kraft der heiligen Liebe geliebt und nicht in der erstgenannten; denn die heilige Liebe ist jenes Gut, welches wir infolge der heiligen Liebe lieben. Und dasselbe gilt von der Seligkeit und den anderen Tugenden.
c) I. Gott und der Nächste sind der Gegenstand unserer Freundschaft; aber daß wir zu ihnen Zuneigung haben, darin ist eingeschlossen die Zuneigung zur heiligen Liebe. Denn wir lieben Gott und den Nächsten, insofern wir lieben, daß wir Gott und den Nächsten lieben; und das will sagen zur heiligen Liebe Zuneigung haben, oder sie lieben. II. Die heilige Liebe ist die Mitteilung selber des geistigen Lebens, durch welche wir zur Seligkeit gelangen; und deshalb wird sie geliebt als das Gut, welches wir allen wünschen, die wir aus heiliger Liebe lieben. III. Dieser Einwurf hat sein Recht, insoweit wir nicht die Liebe an sich lieben als etwas Abstraktes, sondern indem durch die Freundschaft jene geliebt werden, zu denen uns Freundschaft hinzieht.
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