Sechster Artikel. Die Verführung muß als eine eigene Gattung der Wollust betrachtet werden.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Verführung will besagen das unerlaubte geschlechtliche Zusammenleben mit einer Jungfrau, nach Decret. 36. Qq. 1. in append. Grat. 26 cap. Lex illa. Aber das kann zwischen zwei unverheirateten stattfinden und ist somit einfache Unzucht und keine befondere Gattung der Wollust. II. Ambrofius sagt (l. Abrah. c. 4.): „Niemand soll sich täuschen; jede Verführung ist ein Ehebruch;“ also keine besondere Gattung der Wollust. III. Der ein Mädchen verführt, thut unrecht dem Vater desselben; und kann dieser gerichtliche Klage einleiten gegen den Verführer. Also ist solche Verführung vielmehr Ungerechtigkeit wie Wollust. Auf der anderen Seite besteht die Verführung recht eigentlich in der geschlechtlichen Thätigkeit, wodurch ein Mädchen ihre Jungfräulichkeit verliert. Da also die Wollust sich auf alles Geschlechtliche richtet, so ist solche Verführung eine eigene Gattung in der Wollust.
b) Ich antworte, wo betreffs des Gegenstandes eines Lasters eine besondere Häßlichkeit entgegentritt, da müsse eine besondere Gattung in diesem Laster angenommen werden. Bei einer Jungfrau aber, die unter dem Schutze des Vaters steht, haftet eine besondere Häßlichkeit der Sünde der Wollust an, wenn sie verletzt wird; denn dadurch wird das Mädchen gehindert, eine anständige Ehe zu schließen, und zudem auf den Weg feiler Dirnen gewiesen, von dem sie ferngeblieben wäre, damit sie nicht das Merkmal der Jungfräulichkeit verliere; zudem wird der Vater des Mädchens Schande und Spott ausgesetzt, nach Ekkli. 42.: „Sorge mit einer um so beständigeren Treue für eine zur Wollust hinneigende Tochter und bewache sie, damit sie dich nicht gegenüber deinen Feinden als Gegenstand des Spottes und der Schande hinstelle.“ Also ist offenbar so geartete Verführung eine besondere Gattung in der Wollust.
c) I. Die Jungfrau steht, wenn auch nicht durch die Ehe gebunden, so doch unter der Gewalt des Vaters. Sie hat zudem ein besonderes Hindernis des geschlechtlichen unzüchtigen Zusammenlebens, nämlich das Merkmal der Jungfräulichkeit. Die Verführung also ist Unzucht mit einer Jungfrau; die einfache Unzucht vergeht sich mit bereits verletzten weiblichen Personen. II. Ambrosius nennt da „Verführung“ oder stuprum das geschlechtliche Zusammenleben eines Ehemannes mit einer beliebigen anderen Frau, was aus dem Folgenden sich ergiebt: „Dem Manne ist nicht erlaubt, was der Frau nicht erlaubt ist.“ Und so wird das Wort auch Num. 5. genommen „Wenn der Ehebruch verborgen ist und durch Zeugen nicht bewiesen werder kann, weil sie nicht ertappt worden ist in der Verführung.“ III. Die gemeine Wollust wird dadurch eben häßlicher, daß die Häßlichkeit einer anderen Sünde, hier des dem Vater gethaenen Unrechts, hinzutritt; denn die Begierde ist um so ungeregelter, je weniger sie sich vom Ergötzlichen abhalten läßt, damit sie die Ungerechtigkeit vermeide. Dazu kommt noch das Unrecht, welches dem Mädchen selbst angethan wird, welcher zwar nicht Gewalt angethan, aber die verführt wird. Deshalb heißt es Exod. 22.: „Wenn jemand eine Jungfrau verführt und mit ihr geschlafen hat, so soll er sie ausstatten und zur Gattin nehmen. Will aber der Vater des Mädchens dasselbe nicht geben, so soll der Verführer Geld zahlen nach Maßgabe der Mitgift, welche Mädchen zu erhalten pflegen.“ Und mit Rücksicht auf den Vater heißt es Deut. 22.: „Findet ein Mann eine Jungfrau und vergeht sich mit ihr und die Sache kommt vor das Gericht, so soll der sich vergangen hat dem Vater fünfzig Säckel Silber geben und sie zur Gattin nehmen; und weil er sie gedemütigt hat, soll er sie nicht verlassen dürfen alle Tage ihres Lebens;“ und „dies deshalb, damit er nicht scheine, sein Spiel getrieben zu haben mit dem Mädchen,“ sagt Augustin. (Qq. in Deuter. 34 )
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