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Unsere Väter aber, die Gott wohlgefällig waren, erfüllten im Gehorsam ihre Rolle in der Schöpfungsordnung, indem sie alles, was Gott ihnen passend zu jener Zeit als Pflicht auferlegte, erfüllten, wie er es ihnen auferlegt hat. So verzichteten sie etwa, obwohl ja sämtliche essbaren Fleischarten von ihrer Natur her rein sind, auf einige von ihnen, deren Genuss zu jener Zeit untersagt war, da sie von ihrer Sinnbildfunktion her unrein waren; solche Sinnbilder dienten ja dazu, die in der Zukunft sich offenbarende Wirklichkeit modellhaft vorauszubilden. Und wenn die Menschen jener Zeit und jenes Volkes die Woche der ungesäuerten Brote (294,19) und was es sonst an Ritualen dieser Art gab, die nach den Worten des Apostels (cf. Hebr. 10,1) ein Schattenbild der zukünftigen Güter darstellten, nicht befolgt hätten, hätten sie sich genau so schuldhaft verhalten, – denn es war ja damals notwendig, jene rituellen Handlungen auf diese Weise zu vollziehen, und durch sie all das, was heute enthüllt ist, anzukündigen –, wie wir uns heute töricht verhalten würden, wenn wir meinten, dass es für uns von irgendwelchem Nutzen sein könnte, auch nach der Enthüllung des Neuen Testamentes jene Gesetzesvorschriften, die der Ankündigung dienten, weiterhin zu befolgen, und wie wir uns gotteslästerlich und gewissenlos verhalten würden, wenn wir meinten, jene Bücher des Alten Testaments – die doch unseretwegen geschrieben wurden, damit wir, im Wissen, dass all das, was uns mittlerweile offenbart und in unverhüllter Form verkündigt wird, schon so lange voraus durch jene Modellbilder angekündigt war, glaubenstreu und beharrlich daran festhalten – deshalb verwerfen zu dürfen, weil der Herr von uns ja nicht mehr verlange, das dort Geschriebene körperlich zu vollziehen, vielmehr es zu deuten und geistig zu vollziehen; denn geschrieben wurde es ja für uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat, wie es auch unser Apostel formuliert (I Kor. 10,11). Denn alles, was einst geschrieben wurde, ist zu unserer Belehrung geschrieben (Rm. 15,4). Deshalb war es in der Zeit des Alten Testamentes Sünde, während der sieben festgesetzten Tage Gesäuertes zu essen (cf. Exod. 12,15), in der Zeit des Neuen Testaments aber ist es keine Sünde. Doch angesichts der Hoffnung auf das zukünftige ewige Leben, die wir in Christus haben – der unsere Seele mit der Gerechtigkeit, unseren Körper aber mit der Unsterblichkeit bekleidet, und uns vollständig neu macht –, immer noch zu glauben, dass wir aus der Bedrängnis und der Not der alten Vergänglichkeit heraus etwas auf uns nehmen oder tun müssten, ist für immer Sünde, solange jener Kreislauf der sieben Tage, in dem die Zeit dahingeht, nicht zum Stillstand kommt. Doch diese Botschaft war in den Zeiten des Alten Testamentes in Modellbildern verborgen und wurde deshalb nur von wenigen Heiligen verstanden, in der Zeit des Neuen Testaments dagegen ist sie durch die Offenbarung enthüllt, und wird nun den Völkern verkündet. Deshalb war dieselbe Schrift damals Weisung, heute ist sie Zeugnis. Das Laubhüttenfest (284,19) nicht zu feiern war einstmals Sünde (cf. Lev. 23,34), heute ist es das nicht mehr; sich dagegen nicht im Zelt Gottes, das heisst in der Kirche, zu vereinen, ist für immer Sünde. Doch damals feierte man, und zwar auf Weisung hin, ein Modellbild des Zukünftigen, heute liest man, und zwar als Zeugnis, dessen Enthüllung. Denn das, was damals geschah, würde nicht Zelt des Zeugnisses genannt, wenn sein Sinnbildwert nicht dafür geeignet wäre, Zeugnis abzulegen für eine Wahrheit, die zur rechten Zeit enthüllt werden musste. Leinenkleidern Purpurfäden einzuweben(284,20) und sich mit einem Gewand aus einer Mischung von Leine und Wolle zu kleiden (cf. Deut. 22,11) war damals Sünde, heute ist es das nicht mehr; dagegen sein Leben im Widerspruch zur göttlichen Ordnung zu führen, Lebensformen gegensätzlicher Art miteinander vermischen zu wollen, indem etwa eine Ordensfrau Schmuckstücke verheirateter Frauen trägt, oder wenn eine Frau, die die Enthaltsamkeit nicht ertrug und heiratete, sich wie eine Jungfrau präsentiert, ist dagegen in jedem Fall Sünde; und das gleiche gilt für alle Fälle, wo im Leben eines Menschen Verschiedenartiges unpassend verwoben wird. In jenen Gewändern war also damals modellhaft vorgebildet, was heute in Bezug auf den Lebenswandel unverhüllt gesagt wird: jenes war nämlich die Zeit des Hinweisens, dieses die Zeit des Offenbarens. Die gleiche Schrift, die damals Handlungen verlangte, welche Zukünftiges anzeigten, ist also jetzt Zeugin für die Verwirklichung dessen, was in diesen angezeigt wurde; und was damals befolgt wurde, um etwas Zukünftiges anzukündigen, wird heute gelesen, um das zu bestätigen. Ochs und Esel zum Arbeiten zusammenzuspannen (284,22) war damals nicht erlaubt (cf. Deut. 22,10), jetzt ist es erlaubt. Dies ist ja durch den Apostel verdeutlicht worden, als er bei der Erwähnung jener Schriftstelle (cf. Deut. 25,4), die das Verbot enthält, einem dreschenden Ochsen Zaumzeug anzulegen, sagte (I Kor. 9,9): Sorgt sich denn Gott um die Ochsen? Warum also wird das Alte Testament heute noch gelesen, wenn doch das, was es untersagt hat, schon erlaubt ist? Weil derselbe Apostel in der Fortsetzung sagte (I Kor. 9,10): Unseretwegen sagt es die Schrift. Und es wäre auf jeden Fall gewissenlos, wenn wir nicht läsen, was unseretwegen geschrieben wurde; denn sicher geschah das mehr wegen uns, denen damit etwas mitgeteilt wird, als deretwegen, die als Modell für diese Aussage dienten. Denn einen Ochsen und einen Esel kann doch jeder bei Bedarf zusammenspannen, ohne seine Arbeit zu beeinträchtigen; doch aus einem Weisen und einem Einfältigen ein Team zur Verkündigung des Wortes Gottes zu bilden – in dem nicht der eine befiehlt und der andere gehorcht, sondern als Gleichgestellten mit gleichen Befugnissen – würde in jedem Fall Ärgernis erregen.
Deshalb halten wir an dieser Schrift fest, die in der gleichen Gestalt damals mit ihrer Verfügungsgewalt Handlungen auferlegte, welche zur späteren Enthüllung in Schattenbilder einzuhüllen waren, und heute mit ihrer Autorität Zeugnis ablegt für das im strahlenden Licht offenbar gewordene, das vorher verhüllt war. Was nun den Hinterkopf- und Stirnglatzigen anbetrifft (284,23), den das Gesetz als unrein bezeichnet haben soll (cf. Lev. 13,40), da hat Faustus zuwenig genau gelesen, oder er ist auf eine fehlerhafte Handschrift hereingefallen. O hätte er doch für sich selber eine Stirnglatze gewünscht und sich darauf ohne Erröten mit dem Kreuz Christi bezeichnet! Dann hätte er sicher nicht geglaubt, dass Christus, der klar sagte (Joh. 14,6): Ich bin die Wahrheit!, an vorgetäuschten Wunden gestorben und mit vorgetäuschten Narben auferstanden ist. Faustus behauptet nun sogar (285,7): Ich habe nie zu täuschen gelernt; was ich empfinde, das sage ich. Er ist also kein Jünger seines Christus, wenn er in seinem krankhaften Wahn annimmt, dass dieser den zweifelnden Jüngern vorgetäuschte Narben gezeigt habe, aber gleichzeitig möchte, dass man ihm selber als ehrlichem Mann glaubt, was er über jenes Täuschungsmanöver Christi und an sonstigem Geschwätz von sich gibt. Ist er etwa besser als Christus, weil er selber nicht betrügt, während jener ein Betrüger ist, oder aber erweist er sich gerade dadurch als Jünger des Betrügers Mani und nicht Christi, der die Wahrheit verkündet, weil er auch noch damit betrügt, dass er sich rühmt, nicht zu täuschen gelernt zu haben?
