1. Eintheilung der Charismen und die Gründe ihrer Verleihung.
S. b126 Nach der abendlichen Gebetsversammlung setzten wir uns wieder, voll Begierde nach der versprochenen Unterredung, dem Brauche gemäß auf die Psiathien (Matten). Da wir aus Ehrfurcht vor dem Greise eine Zeit lang Schweigen beobachteten, brach er zuvorkommend unsere schüchterne Stille mit folgender Rede: Der Verlauf der vorigen Unterredung führte uns bis zur Darlegung des Grundes der geistlichen Gnadengaben, und dieser ist, wie wir der Überlieferung der Vorfahren entnehmen, ein dreifacher. Die erste Ursache der Heilgabe nemlich ist es, wenn irgend welchen auserwählten und gerechten Männern, je nach dem Verdienste ihrer Heiligkeit, die Gabe der Wunder zur Seite steht. So ist es ganz bekannt, daß die Apostel und viele Heilige auf die Autorität des Herrn hin Zeichen und Wunder thaten, da er ja sagte: „Heilet die Kranken, S. b127 erwecket Todte, reinigt die Aussätzigen und treibet die Teufel aus; umsonst habt ihr es erhalten, umsonst gebt es!“ — Die zweite Ursache ist es, wenn zur Erbauung der Kirche oder wegen des Glaubens Jener, welche die Kranken bringen, oder auch der zu Heilenden die Kraft der Heilung auch von Sündern und Unwürdigen ausgeht. Von diesen sagt der Erlöser im Evangelium: 1 „Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir denn nicht in deinem Namen prophezeit, in deinem Namen Teufel ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder gethan? Und dann werde ich Ihnen sagen: Ich habe euch nie gekannt: weichet von mir, ihr Übelthäter!“ Anderseits aber, wenn bei Jenen, welche die Kranken bringen, oder bei diesen selbst der Glaube fehlt, läßt er auch Die, welchen die Gabe der Heilung verliehen ist, die gesundmachende Kraft nicht ausüben. Hievon sagt der Evangelist Lukas: 2 „Und nicht konnte Jesus unter ihnen Wunder wirken wegen ihres Unglaubens.“ Deßhalb sagt derselbe Herr: 3 „Viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elisäus, und keiner von ihnen wurde gereinigt, als Naaman, der Syrer.“ — Nun wird noch eine dritte Art von Heilgabe durch des Teufels Trug und Umtrieb vorgespiegelt, damit, wenn ein offenbar in Laster verstrickter Mensch von den über seine Wunder Erstaunten für einen Heiligen und Diener Gottes gehalten wird, auch die Nachahmung seiner Laster sich empfehle und so, wenn den Feinden der Religion eine Blöße erschlossen ist, auch die Heiligkeit dieser selbst in Verruf komme. Oder es soll doch wenigstens Derjenige, welcher die Heilgnade zu haben glaubt, durch Hochmuth des Herzens sich überheben und so zu schwererem Falle gebracht werden. Daher geschieht es, daß die Teufel die Namen Solcher anrufen, bei welchen sie gar keine Verdienste der Heiligkeit und keine geistlichen Erfolge sehen, und nun heucheln, als litten sie durch deren Verdienste brennende Schmer- S. b128 zen und würden von den besessenen Körpern ausgetrieben. Von Solchen heißt es im Deuteronomium: 4 „Wenn in deiner Mitte ein Prophet aufgestanden ist oder Einer, der sagt, er habe ein Traumbild gesehen, und der Zeichen und Wunder voraussagt, und bei dem auch eintrifft, was er sagt; aber er sagt dir: „Kommt, wir wollen fremden Göttern folgen, die du nicht kennst, und wir wollen ihnen dienen;“ so höre nicht auf die Worte dieses Propheten oder Träumers, weil euch der Herr euer Gott versucht, damit offenbar werde, ob ihr ihn liebet oder nicht von ganzem Herzen und mit ganzer Seele.“ Und im Evangelium wird gesagt: 5 „Es werden falsche Christus aufstehen und falsche Propheten und werden große Zeichen und Wunder thun, so daß, wenn es möglich wäre, selbst die Auserwählten irre geführt würden.“
