Vierter Artikel. Die Klugheit ist eine Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Augustin schreibt (1. de lib. arbitr. 13.): „Die Klugheit ist das Wissen von dem, was man erstreben oder vermeiden soll.“ Die Tugend aber ist an sich kein Wissen. II. Die Kunst ist keine Tugend; sie kann höchstens einer Tugend dienen. Von Hiram aber heißt es (2. Paralip. 2.), „er hätte gewußt alle Schnitzarbeiten und klug zu erfinden, was für das betreffende Werk notwendig war.“ III. Keine Tugend ist maßlos. Das ist aber an sich die Klugheit; sonst würde Prov. 13. nicht ermahnt werden: „Setze ein Maß deiner Klugheit.“ Auf der anderen Seite sagt Gregor (2. moral. 27.), die Klugheit, die Mäßigkeit, die Stärke, die Gerechtigkeit seien vier Tugenden.
b) Ich antworte, „die Tugend mache gut den, der sie hat; und macht gut sein Werk.“ „Gut“ nun wird genannt im materialen Sinne das Gewirkte oder das Werk selbst, und im formalen Sinne, das was im Werke den Charakter des Guten gerade bestimmt und abgrenzt. Das Gute nun ist an sich (formal) Gegenstand des Begehrens. Wenn also Zustände wohl in der Vernunft das rechte Urteil befördern, aber nichts in sich haben, um das Begehren zu einem geraden, rechten zu machen; so haben sie minder teil an der Tugend. Denn sie lenken wohl hin auf das, was im materialen Sinne etwas Gutes ist, und ordnen dies; aber sie lenken nicht darauf hin unter demformalen Gesichtspunkte des Guten. Mehr also an Tugend haben jene Zustände, welche auch das Begehren regeln und sonach machen, daß man das Gute als Gutes erstrebt. Der Klugheit nun gehört es zu, den rechten Grund oder die rechte Richtschnur, wie sie in der Vernunft sich findet, anzuwenden auf das Wirken, was ohne ein geregeltes Begehren nicht statthaben kann. Die Klugheit also schließt nicht nur jene Art der Vollendung in sich ein, welche den Tugenden in der Vernunft zukommt; sondern hat auch den Charakter einer moralischen Tugend, zu welchen sie ja gerechnet wird.
c) I. Augustin nimmt Wissen im weiten Sinne für jede Richtschnur der Vernunft. II. Die Kunst setzt nicht voraus das Geregeltsein im Begehren. Daß der Mensch also der Kunst, die er hat, sich recht bediene, dies setzt eine wirkliche Tugend voraus, welche das Begehren zu einem geregelten macht. Die Klugheit aber fällt nicht in jenen Bereich, wozu die Kunst gehört; sowohl weil die Kunst immer einen besonderen beschränkten Zweck hat als auch weil nur durch bestimmte Mittel sie zu ihrem Zwecke gelangt. Man sagt deshalb, es arbeite jemand klug in seiner Kunst, auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit. In manchen Künsten jedoch ist Beratung notwendig wegen der Unzuverlässigkeit dessen, was dem Zwecke dient; wie in der Arzneikunde und der Schiffahrtskunde, nach 3 Ethic. 3. III. Nicht die Klugheit selber soll ein Maß erhalten, sondern gemäß, der Klugheit sollen alle anderen Tugenden gemessen und geregelt werden.
