Sechster Artikel. Die Klugheit schreibt den moralischen Tugenden nicht den Zweck vor.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Die Klugheit als in der Vernunft befindlich verhält sich so zu den moralischen Tugenden, die im begehrenden Teile ihren Sitz haben, wie die Vernunft zu den begehrenden Vermögen. Die Vernunft aber schreibt diesen den Zweck vor. II. Der Mensch ragt durch die Vernunft über die vernunftlosen Wesen hervor. So verhält sich also die Vernunft zu den übrigen Teilen des Menschen wie der Mensch zu den vernunftlosen Kreaturen. Der Mensch aber ist der Zweck für die vernunftlosen Kreaturen, (l. Polit. 5.) Alle anderen Teile im Menschen also sehen auf die Vernunft als auf ihren Zweck. Die Klugheit nun ist die rechte Richtschnur in der Vernunft für das zu Wirkende. Also alles menschliche Wirken bezieht sich auf die Klugheit wie auf seinen Zweck. III. Der Tugend oder der Kunst oder dem Vermögen, dem es eigen ist, auf den Zweck gerichtet zu sein, kommt es zu, den anderen Tugenden oder Künsten, welche dem Zweckdienlichen zugewendet sind, zu befehlen und vorzuschreiben. Die Klugheit aber ist die leitende Richtschnur sür die anderen Tugenden; sie befiehlt ihnen. Also giebt sie ihnen auch den Zweck an. Aus der anderen Seite sagt Aristoteles (6 Ethic. l2.): „Die moralische Tugend macht, datz die Absicht in rechter Weise auf den Zweck gerichtet ist; die Klugheit aber richtet sich auf das Zweckdienliche.“
b) Ich antworte, die Tugenden haben im allgemeinen zum Gegenstande das dem Menschen entsprechende Gute. Letzleres aber besteht darin, „daß man der Vernunft gemäß ist.“ (Dionys. 4. de div. nom.) Also müssen die Zweckrichtungen der moralischen Tugenden in der Vernunft vorherexistieren. Ähnlich aber wie in der beschaulichen Vernunft die Grundprincipien sich finden als kraft der Natur gekannt, und die Schlußfolgerungen als vermittelst der Grundprincipien gekannt; so sind in der praktisch thätigen Vernunft die Grundzwecke von Natur gekannt, nämlich die allgemeinen Zwecke der moralischen Tugenden, und das Zweckdienliche verhält sich in dieser Vernunft wie die Schlußfolgerungen in der beschaulichen oder spekulativen Vernunft. Die Klugheit nun ist es, welche die allgemeinen Principien für das menschliche Thätigsein, also die grundlegenden bereits von Natur aus bestehenden Zweckrichtungen der moralischen Tugenden, anwendet auf das Wirken unter einzelnen besonderen Umständen. Die Klugheit giebt somit den Zweck nicht an, sondern beschäftigt sich mit dem Zweckdienlichen. ch I. Die mit der Natur bereits gegebene Vernunft enthält die Zweckbeziehungen der moralischen Tugenden: die Synderesis nämlich; die Klugheit wendet an auf das Besondere. II. Ebenso. III. Der Zweck ist den moralischen Tugenden von der Natur vorgeschrieben; um ihn zu finden, hilft die Klugheit und ordnet das Zweckdienliche. Sonach steht sie als Tugend höher wie die moralischen Tugenden, denn von ihr geht die Bestimmung für die Thätigkeit derselben aus; — und die Klugheit selber steht wieder tiefer wie die Synderesis.
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