Fünfzehnter Artikel. Klugheit wohnt uns nicht von Natur inne.
a) Das Gegenteil wird dargethan: I. Aristoteles sagt (6 Ethic. 11.): „Was zur Klugheit gehört, scheint von Natur zu sein; nicht aber was zur beschaulichen Weisheit gehört.“ II. Die Mannigfaltigkeit im Alter ist gemäß der Natur. Die Klugheit aber folgt dem verschiedenen Alter, nach Job 12.: „In den Alten ist Weisheit und in denen, die lange Zeit gelebt haben, Klugheit.“ III. Die Klugheit kommt der menschlichen Natur mehr zu wie der tierischen. Die Tiere aber haben manche Arten von Klugheit von Natur, wie die Bienen zumal, nach Aristoteles. (8. de histor. anim. 1.) Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Ethic. 1.): „Die Tugend in der Vernunft schöpft zumeist aus der Lehre sowohl ihr Entstehen wie ihr Wachstum; und deshalb bedarf sie der Erfahrung und der Zeit.“, Die Klugheit aber ist eine Tugend in der Vernunft.
b) Ich antworte, die Klugheit schließe ein die Kenntnis der allgemeinen Principien und jener einzelnen Umstände des Thätigseins, worauf der kluge die allgemeinen Principien anwendet. Mit Rücksicht nun auf die allgemeinen Principien sind sowohl für die Klugheit wie für die beschauliche Wissenschaft die ersten Grundprincipien von Natur aus gekannt; nur daß die der Klugheit eigenen allgemeinen Principien noch in höherem Grade naturgemäß sind. Deshalb sagt Aristoteles (10 Ethic. 7.): „Das Leben, welches der beschaulichen Betrachtung entspricht, ist besser, das andere ist menschlicher.“ Die von den ersten abgeleiteten Principien aber erhält man durch Belehrung oder durch eigene Forschung. Mit Rücksicht auf die Kenntnis der Einzelumstände des Thätigseins aber ist zu sagen bezüglich des Zweckes, daß der Zweck für die einzelnen Vermögen und für das ganze menschliche Leben von Natur aus bestimmt ist; und somit können einzelne von Natur die Hinneigung zu dergleichen Zweckrichtungen in ihren Vermögen haben, wie ja manche von Natur gewisse Hinneigung zu Tugenden besitzen und so von Natur über den entsprechenden Zweck recht urteilen. Das Zweckdienliche aber ist nicht von Natur bestimmt, sondern ändert sich nach Zeit und Ort und persönlichen Verhältnissen. Die diesbezügliche Kenntnis also der einzelnen Umstände kann nicht von der Natur kommen, die ja immer nur zu etwas Einem, Beständigem hinneigt, wenn auch von Natur der eine mehr Anlage haben kann für solche Kenntnis wie der andere. Da nun die Klugheit auf das Zweckdienliche sich richtet, so ist sie nicht von Natur.
c) I. Aristoteles spricht da von der natürlichen Hinneigung zu den allgemeinen Principien des Thätigseins, also zu den Zwecken; und in diesem Sinne von der Klugheit. Deshalb ward vorausgeschickt: „Die Principien sind dem Zwecke eigen.“ Er erwähnt deshalb da auch nicht das gute Beraten als etwas zur Klugheit Gehöriges. II. Die lange Erfahrung und die Beruhigung der Leidenschaften macht, daß in den Alten mehr Klugheit ist. IIl. Die Tiere haben ganz bestimmte Mittel, um einen bestimmten beschränkten Zweck zu erreichen. Des Menschen Vernunft geht auf das Allgemeine; er bestimmt sich selbst zum einzelnen Zweckdienlichen.
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