5.
Jede der genannten Tugenden bildet einen Weg zum Heile und in irgend eine der ewigen, seligen Wohnungen. Wie es verschiedene Lebensberufe gibt, so gibt es bei Gott viele Wohnungen1, welche je nach dem Verdienste des Einzelnen verteilt und zugewiesen werden. Mag einer diese oder jene Tugend, mag einer mehrere oder ― wenn es möglich sein sollte ― alle Tugenden pflegen, auf jeden Fall bleibe er nicht stehen, strebe vorwärts und trete in die Fußstapfen des kundigen sicheren Führers, welcher auf engem Wege und durch schmale Pforte auf die breiten Gefilde der himmlischen Seligkeit geleitet. Wenn wir es Paulus und Christus selbst glauben müssen, daß die Liebe das erste und größte Gebot, der Hauptinhalt des Gesetzes und der Propheten ist, dann erkläre ich die Liebe zur Armut, das Mitempfinden und Mitleiden mit dem Nächsten als die größte Liebe. Durch gar nichts wird ja Gott so sehr geehrt wie durch Mitleid. Denn nichts ist Gott eigentümlicher als das Erbarmen, da „vor ihm Mitleid und Wahrheit einherschreiten2“ und ihm Erbarmen lieber ist als Verurteilung3. Der, welcher gerecht vergilt und sich nach S. 277 der Wage und nach den Gewichten erbarmt4, schenkt seine Liebe keinem so sehr wie dem Barmherzigen.
