35.
Mir scheint Barmherzigkeit und Mitleid mit den Dürftigen auch deshalb notwendig zu sein, um die Unbarmherzigen zum Schweigen zu bringen und törichten Reden nicht einen Sieg zu lassen, welcher die Grausamkeit gegen uns selbst zum Gesetze erheben würde. Wir müssen mehr Achtung vor den Geboten und Beispielen aller haben. Wie lauten ihre Gebote? Sie sind, worauf ihr zu achten habt, immer ein und dieselben. Denn nicht haben die Männer des Geistes, nachdem sie ein oder zweimal ihre Forderung bezüglich der Armen gestellt hatten, ihre Forderung geändert. Auch haben nicht die einen das Gebot gegeben, die anderen nicht, noch haben die einen dasselbe mehr, die anderen weniger betont, als wenn es sich nicht um ein bedeutendes Gebot und nicht um eine zwingende Notwendigkeit handeln würde. Vielmehr haben alle dasselbe mit gleichem Nachdruck als erste oder eine der ersten Forderungen erlassen, bald in der Form von Mahnungen, bald in der von Drohungen und Zurechtweisungen; bisweilen auch haben sie die, welche ihre Pflicht taten, belobt, um ja durch andauerndes Drängen ihre Forderung wirksam zu machen. „Wegen des Elendes der Armen und der Bedrängung der Notleidenden will ich mich nun erheben, spricht der S. 304 Herr1.“ Wer sollte nicht den Herrn fürchten, wenn er sich erhebt? „Herr, mein Gott erhebe dich, deine Hand strecke sich aus, vergiß nicht der Armen2! Wir wollen uns vor solchem Ausstrecken sicherstellen, nicht wollen wir darnach verlangen, zu sehen, wie sich seine Hand gegen die Ungehorsamen erhebt, bzw. wie schwer sie auf den Hartherzigen ruht. „Nicht vergaß ich des Geschreies der Armen3.“ „Nicht vollständig wird der Arme vergessen werden4.“ „Seine Augen schauen auf den Armen; seine Augenlider forschen nach den Kindern der Menschen5.“ Der Blick mit den Augen ist wichtiger und mächtiger; das Schauen mit den Augenlidern ist sozusagen unbedeutender und geringer.
