28.
Jeder, der mit dem Schiffe fährt, ist dem Schiffbruche nahe und zwar um so mehr, je kühner seine Fahrt ist. Und jeder, der mit dem Leibe umgeben ist, S. 297 ist den körperlichen Leiden nahe und zwar um so mehr, je aufrechter er einherschreitet und je weniger er auf die achtet, welche vor ihm liegen. Solange du mit günstigem Winde fährst, reiche dem Schiffbrüchigen die Hand; solange du glücklich und reich bist, bringe den Leidenden Hilfe! Warte nicht so lange, bis du an dir selbst erfährst, wie schlimm es ist, unbarmherzig behandelt zu werden und wie angenehm es ist, wenn sich die Herzen den Notleidenden öffnen! Veranlasse Gott nicht, daß er seine Hand gegen die erhebe, welche ihren Nacken hochhalten und an den Armen vorübereilen! Lerne vom Unglück des Nächsten! Gibst du dem Dürftigen auch nur Weniges, es ist nicht wenig für den, dem es an allem gebricht, aber auch nicht in den Augen Gottes, soferne es deinen Mitteln entspricht. Hast du keine große Gabe, dann zeige guten Willen! Hast du nichts, dann schenke deine Tränen! Barmherzigkeit, die von Herzen kommt, ist große Beruhigung für den, der im Unglück ist. Aufrichtiges Mitleid ist große Erleichterung im Elend. O Mensch, der Mensch hat nicht weniger Wert als das Tier, das du, wie dir das Gesetz befiehlt1, wenn es in eine Grube gefallen ist, herausziehen und, wenn es sich verirrt hat, zurückführen mußt. Sollte in dem Befehle des Gesetzes noch ein geheimnisvollerer und tieferer Sinn verborgen sein, da oftmals im Gesetze noch ein anderer, tieferer Gedanke liegt, dann kommt es nicht mir zu, ihn zu verstehen, sondern dem Geiste, der alles erforscht und erkennt. Soweit ich den Gesetzesbefehl erfasse und verstehe, will er, daß wir vom Mitleid im Kleinen zum vollkommeneren und höheren fortschreiten. Wenn schon Mitleid gegen vernunftlose Wesen verlangt wird, wie groß sollte dann erst die Liebe zu denen sein, welche mit uns Geschlecht und Ehre teilen!
Deut. 22, 1 ff. ↩
