I. KAPITEL. Von der göttlichen Heilsveranstaltung, von der Sorge um uns und von unserem Heil.
S. 112 Den Menschen nun, der sich durch diesen Angriff des erzbösen Dämon betrügen ließ, der das Gebot des Schöpfers nicht befolgt, der die Gnade verloren und „die Zuversicht zu Gott 1“ ausgezogen, der mit der Rauheit des mühseligen Lebens bedeckt war ― denn das bedeuten die Feigenblätter 2 ―, der das Sterben, d. h. die Sterblichkeit und Grobheit des Fleisches, angezogen ― denn das bedeutet die Umhüllung mit den Fellen 3 ―, der nach „Gottes gerechtem Gericht 4“ aus dem Paradies vertrieben, zum Tode verurteilt und der Vergänglichkeit unterworfen war, diesen übersah der Mitfühlende nicht, er, der [ihm] das Sein gegeben und das Wohlsein geschenkt. Nein, zuerst züchtigte er [ihn] durch viele Mittel und rief ihn zur Bekehrung durch Seufzen und Zittern, durch Sintflut und fast völligen Untergang des ganzen Geschlechtes 5, durch Verwirrung und Teilung der Sprachen 6, Aufsicht von Engeln 7, Verbrennung von Städten 8, vorbildliche Gotteserscheinungen, Kriege, Siege, Niederlagen, Zeichen und Wunder 9, verschiedene Machterweise, durch Gesetz, Propheten. Der Zweck von [all] dem war die Aufhebung der Sünde, S. 113 die sich mannigfaltig ausgebreitet, den Menschen unterjocht und Schlechtigkeit aller Art aufs Leben gehäuft, und die Rückkehr des Menschen zum Wohlsein (Glück). Durch die Sünde war ja der Tod in die Welt gekommen 10, der wie ein wildes, ungezähmtes Tier das menschliche Leben verwüstet. Der Erlöser aber durfte keine Sünde haben und durch die Sünde dem Tode nicht unterworfen sein. Zudem galt es, die Natur zu stärken und zu erneuern und den Weg der Tugend, der vom Verderben weg- und zum ewigen Leben hinführt, durch die Tat zu weisen und zu lehren. Da endlich zeigt er das große Meer der Liebe, die er zu ihm (═ dem Menschen) hat. Denn der Schöpfer und Herr selbst übernimmt für sein Gebilde den Kampf und wird Lehrer durch die Tat. Und da der Feind den Menschen geködert, indem er ihm Hoffnung auf Gottsein gemacht 11, so wird er geködert, indem er (═ der Herr) ihm Fleisch entgegenhält, und es zeigt sich zugleich die Güte und die Weisheit, die Gerechtigkeit und die Macht Gottes 12. Die Güte. Denn er hat die Schwachheit seines Gebildes nicht übersehen, sondern sich des Gefallenen erbarmt und ihm die Hand gereicht. Die Gerechtigkeit. Denn, als der Mensch besiegt worden, läßt er nicht einen andern den Tyrannen besiegen noch entreißt er mit Gewalt den Menschen dem Tode; nein den, den einst der Tod wegen der Sünden unterjocht, hat der Gute und Gerechte wiederum zum Sieger gemacht und durch den Gleichen den Gleichen gerettet, was unmöglich schien. Die Weisheit. Er hat ja die treffendste Lösung des [scheinbar] Unmöglichen gefunden. Denn „der eingeborene Sohn“, das Wort Gottes und Gott, „der im Schoße Gottes, des Vaters, ist 13“, der dem Vater und dem Hl. Geiste Wesensgleiche, der Ewige, der Anfangslose, der im Anfang war und bei Gott dem Vater war und S. 114 Gott war 14, der „in göttlicher Gestalt existierte 15“, der neigt nach dem Wohlgefallen Gottes des Vaters die Himmel und steigt herab 16, d. i. er erniedrigt seine Hoheit, die keine Erniedrigung kennt, ohne sich zu erniedrigen, und steigt in unaussprechlicher und unbegreiflicher Herablassung zu seinen Knechten herab. Denn das bedeutet das Herabsteigen. Und obwohl er vollkommener Gott ist, wird er vollkommener Mensch und vollbringt das Neueste von allem Neuen, das allein Neue unter der Sonne 17, wodurch sich die unendliche Macht Gottes offenbart. Denn was gibt es Größeres, als daß Gott Mensch wird? „Und das Wort ist“, ohne sich zu verwandeln, „Fleisch geworden 18“ aus dem Hl. Geiste und der heiligen, immerwährenden Jungfrau und Gottesgebärerin Maria. Und es läßt sich „Mittler zwischen Gott und den Menschen 19“ nennen, der einzige Menschenfreund, nicht „aus dem Gelüst 20“ oder dem Trieb oder der Umarmung eines Mannes oder aus wollüstigem Zeugen im unbefleckten Schoße der Jungfrau, sondern aus dem Hl. Geiste und nach Art der ursprünglichen Entstehung Adams empfangen. Und er wird gehorsam dem Vater, durch die Annahme dessen, was uns entsprechend und aus uns ist, heilt es unsern Ungehorsam und wird uns ein Vorbild des Gehorsams, ohne den man das Heil nicht erlangen kann.
Vgl. 1 Joh. 3, 21; 5, 14. ↩
Gen. 3, 7. ↩
Ebd. [Gen. 3, 7]. ↩
Röm. 2, 5. ↩
Gen. 6, 13. ↩
Ebd. [Gen.] 11, 7. ↩
Ebd. [Gen.] 18, 1 ff. ↩
Ebd. [Gen.] 19, 1. ↩
Dieser Ausdruck findet sich Deut. 4, 34; 7, 19; 13, 1; 26, 8; 34, 11; Jos. 24, 5; 2 Esdr. 9, 10; Weish. 10, 16; Is. 20, 3; Jer. 32, 20 f.; Mark. 13, 22; Hebr. 2, 4. ↩
Weish. 2, 24. ↩
Gen. 3, 5. ↩
Johannes folgt in seinen Ausführungen über die Güte, Weisheit, Gerechtigkeit und Macht Gottes Gregor von Nyssa (Catech. Orat. c. 22 Migne, P. gr. 45, 60 C―D, 65 B―C). ↩
Joh. 1, 18. ↩
Vgl. Joh. 1, 1 f. ↩
Phil. 2, 6. ↩
Vgl. Ps. 17, 10; 143, 5 [hebr. Ps. 18, 10; 144, 5]. ↩
Vgl. Pred. 1, 10 nach der Vulgata, 1, 9 nach LXX [Septuaginta]. ↩
Joh. 1, 14. ↩
1 Tim. 2, 5. ↩
Joh. 1, 13. ↩
