XI. Kapitel
Die Einteilung der Pflichten in vollkommene und mittlere kennt auch die Hl. Schrift (36—37). Zu den ersteren zählt die Barmherzigkeit (38—39).
36. Jede Pflicht ist entweder eine mittlere oder eine vollkommene1. Auch das können wir gleicherweise S. 28 an der Hand der Schrift nachweisen. Wir lesen nämlich im Evangelium den Ausspruch des Herrn: „Willst du zum ewigen Leben gelangen, so halte die Gebote. Da sprach jener: welche? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter; und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“2. Das sind mittlere Pflichten, denen etwas fehlt.
37. So spricht denn auch der Jüngling zu ihm: „Das alles habe ich von Jugend auf beobachtet: was fehlt mir noch? Da entgegnete ihm Jesus: Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe alle deine Güter und gib sie den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“3 Im Vorausgehenden findet sich die Schriftstelle mit der Mahnung, die Feinde zu lieben, für unsere Verleumder und Verfolger zu beten und die, welche uns fluchen, zu segnen4. So müssen wir es halten, wenn wir vollkommen sein wollen wie unser Vater, der im Himmel ist, der über Gute und Böse die Sonne ihre Strahlen ausgießen läßt und unterschiedslos die Lande aller mit Regen und Tau S. 29 befruchtet5. Das nun ist die vollkommene Pflicht, von den Griechen κατόρθωμα [katorthōma] genannt. Durch sie gelangt alles, was irgendwie zu Fall kommen konnte, zur Besserung.
38. Gut ist auch die Barmherzigkeit; denn auch sie macht den Menschen vollkommen, weil sie den vollkommenen Vater nachahmt. Nichts empfiehlt eine christliche Seele so, wie die Barmherzigkeit, vor allem gegen die Armen. Als Gemeingut soll man die Erzeugnisse der Natur betrachten, welche die Früchte der Erde für alle hervorbringt. Dem Armen sollst du daher von deiner Habe mitteilen und den unterstützen, der Los und Gestalt mit dir teilt. Du reichst eine Münze: er empfängt seinen Lebensunterhalt; du gibst ein Geldstück: er sieht darin seine ganze Habe. Dein Denar ist sein Vermögen.
39. Mehr bietet dir verhältnismäßig der Arme: er ist Schuldner des Heils. Kleidest du einen Nackten, schmückst du dich selbst mit dem Kleide der Gerechtigkeit6. Nimmst du einen Fremden unter dein Dach auf, nimmst du dich eines Notleidenden an, verschafft er dir die Freundschaft der Heiligen und die ewigen Wohnungen7. Nicht wenig bedeutet solcher Gnadenerweis. Leibliche Saat streust du aus, geistige Frucht erntest du. Du wunderst dich über das Gericht des Herrn, das über den heiligen Job hereinbrach?8 Bewundere dessen Tugend! Konnte er doch sprechen: „Auge war ich der Blinden, der Lahmen Fuß. Ich war der Vater der Schwachen“9. „Mit dem Fell meiner Lämmer wurden ihre Schultern erwärmt“10. „Kein Fremder wohnte draußen; meine Türe stand vielmehr jedem Ankömmling offen“11. Selig fürwahr, von dessen Haus kein Armer je mit leerer Tasche fortging! Denn niemand ist seliger, als wer der Not des Armen und der Trübsal des Schwachen und Dürftigen gedenkt. Am Tage des S. 30 Gerichtes wird er Heil finden vom Herrn12, indem er ihn zum Schuldner seines Erbarmens haben wird.
Diese stoische Einteilung der Pflichten bei Cic. l. c. I 3, 8; insbes. III 3, 14—4, 16 (vgl. unten III 2, 10 ff.). Die vollkommene Pflicht oder Erstpflicht (officium perfectum, primum, κατόρθωμα [katorthōma]) besteht hiernach in dem aus sittlich-gutem Beweggrund hervorgehenden rechten Tun (rectum), die mittlere oder die Pflicht zweiten Grades (officium medium, secundum, καθῆκον [kathēkon] = zwischen dem Sittlichguten und dem Vernunftwidrigen liegend) im vernunftmäßigen Handeln, genauer „in dem Handeln, für welches ein vernünftiger Grund beigebracht werden könne.“ Ambr. versteht unter den vollkommenen Pflichten die sog. supererogatorischen Werke im Unterschied von den gebotenen Werken. De vid. 12, 72 sqq. bezeichnet er erstere als (evangelische) „Räte“ (consilia), letztere als „Gebote“ (praecepta). Es sei nämlich eine zweifache Anordnungsweise Gottes zu unterscheiden, die eine befehle, die andere lasse dem Menschen freie Wahl; der Befehl weise in die Schranken der Natur zur Beobachtung ihrer Forderungen und lehre die Sünde meiden, der Rat ermuntere zur Erwerbung reichlicherer Gnaden und Verdienste. Vgl. Niederhuber, Die Lehre des hl. Ambr. vom Reiche Gottes auf Erden, Mainz 1904 S. 137 ff. ↩
Matth. 19, 17―19. ↩
Matth. 19, 20 f. ↩
Matth. 5, 44. ↩
Matth. 5, 45. 48. ↩
Vgl. Job 29, 14. ↩
Vgl. Luk. 16, 9. ↩
Job c. 1 f. ↩
Job 29, 15 f. ↩
Job 31, 20. ↩
Job 31, 32. ↩
Vgl. Ps. 40, 2 [Hebr. Ps. 41, 2]. ↩
