XXVI. Kapitel
Von der Klugheit: Vom Schicklichen in der Erforschung des Wahren (122). Moses ein leuchtendes Vorbild hierin (123). Jedem Menschen wohnt der Wahrheitstrieb inne (124). Wissen ohne entsprechendes Handeln wäre mehr Ballast (125).
122. In der Erforschung der Wahrheit ist nun, so lehrt man, als das Schickliche festzuhalten, daß man mit allem Eifer dem nachforsche, was wahr ist1: nicht S. 69 Falsches für wahr halte, das Wahre nicht verdunkle, den Geist nicht mit unnützen oder verworrenen und ungewissen Problemen beschäftige2. Was wäre so ungeziemend als die Verehrung von Holzklötzen, wie sie eben jene Lehrer betätigen? Was so dunkel als die astronomischen und geometrischen Untersuchungen, die sie für gut finden? Als die tiefen Lufträume zu messen, ferner den Himmel und das Meer in Zahlen zu schließen3, die Sache des Heils hintanzusetzen, der des Irrtums nachzuhängen?
123. Oder hat nicht Moses, der „in jeglicher Weisheit der Ägypter bewandert war“ 4, dies alles auf seinen Wert geprüft? Doch er erachtete jene Weisheit für Nachteil und Torheit, wandte sich von ihr ab, suchte mit innerlichstem Herzen Gott, schaute ihn darum, befragte ihn und hörte ihn sprechen5. Wer wäre in höherem Grade weise gewesen als er, den Gott selbst belehrte, und der alle Weisheit der Ägypter und alle Macht ihrer Künste kraft seines Wirkens zuschanden machte?6 Er hielt Unbekanntes nicht für bekannt und pflichtete solchem Dafürhalten nicht blindlings bei7: zwei Fehler, welche Leute, die weder Widernatürliches noch Schändliches darin erblicken, wenn sie Steinblöcke anbeten und von fühllosen Götzenbildern Hilfe erflehen, an dieser Stelle, die vom Natürlichen und Schicklichen handelt, meiden lernen sollten.
124. Je erhabener die Tugend der Weisheit ist, um so größerer Eifer, wie ich glaube, ist zu ihrer Erlangung erforderlich. Um uns daher nichts Widernatürliches, nichts Schändliches und Unziemliches in den Sinn kommen zu lassen, sollen wir ein Zweifaches, d. i. Zeit und Fleiß auf die Betrachtung der Dinge verwenden8, um S. 70 sie erproben zu können. Denn es gibt keinen größeren Vorzug, den der Mensch vor den übrigen lebenden Wesen voraus hat, als den, daß er vernunftbegabt ist, die Ursachen der Dinge ergründen kann, dem Urheber seines Geschlechtes nachforschen zu müssen glaubt, in dessen Macht die Macht über unser Leben und unseren Tod steht; der diese Welt mit seinem Wink regiert; dem wir über unser Handeln, wie wir wissen, Rechenschaft geben müssen. Nichts fördert nämlich ein sittlichgutes Leben mehr als der Glaube an einen künftigen Richter, dem das Verborgene nicht entgeht, den das schlechte Handeln beleidigt und das gute erfreut.
125. Allen Menschen nun wohnt schon auf Grund der menschlichen Natur, die uns zum Streben nach Erkenntnis und Wissen hinzieht und den Forschungstrieb einsenkt, der Drang nach Erforschung des Wahren inne. Hierin es allen zuvortun gilt für schön9. Doch das zu erreichen, ist nur wenigen beschieden, die in ernster Gedankenarbeit, im Wägen und Wagen sich nicht geringe Mühe geben, um womöglich zu jenem seligen und tugendhaften Leben zu gelangen und auch im Handeln sich ihm zu nähern. „Denn nicht wer zu mir spricht ‚Herr, Herr‘,“ so heißt es, „wird ins Himmelreich eingehen, sondern wer das tut, was ich sage“10. Wissenschaft ohne Handeln danach — ich weiß nicht, ob es nicht mehr Ballast ist11.
Vgl. Cic. l. c. 4, 13; 5, 15 f.; 6, 18. ↩
Vgl. Cic l. c. 6, 19. ↩
Vgl. Cic. l. c. 43, 154. Die Beispiele werden in einem anderen Gedankengang gebracht. ↩
Apg. 7, 22. ↩
Exod. 3, 2 ff. ↩
Exod. c. 7 ff. ↩
Vgl. Cic. l. c. 6, 18. ↩
Dieselbe Forderung Cic. l. c. 6, 18. ↩
Vgl. Cic. l. c. 6, 18. ↩
Matth. 7, 21. ↩
Auch Cic. I. c. 43, 153 erklärt das Wissen, dem kein Handeln folgt, für ein „unvollständiges und unfertiges.“ Vgl. ebd. 6, 19. ↩
