XXIX. Kapitel
Von der Gerechtigkeit: Sie ist selbst im Kriege erforderlich (139), um so mehr im Frieden (140). Die antike, der Hl. Schrift entlehnte Bezeichnung des Feindes als ‚Fremdling‘ gemahnt daran (141). Der Glaube das Fundament der Gerechtigkeit, Christus das Fundament der Kirche (142).
139. Was es Großes um die Gerechtigkeit ist, läßt sich daraus ersehen, daß sie keine Ausnahme kennt, weder in Bezug auf Ort, noch Person, noch Zeit. Wird sie doch selbst den Feinden gegenüber geübt1. Ist man über Ort und Tag zur Schlacht mit dem Feinde übereingekommen, gilt es als eine Verletzung der Gerechtigkeit, ihm örtlich oder zeitlich zuvorzukommen2. Es ist nämlich ein Unterschied, ob jemand in der Schlacht und im schweren Kampf, oder aber infolge eines überlegenen Vorteils oder aus bösem Zufall in die Gefangenschaft gerät. Über allzu grimmige Feinde, sowohl über treubrüchige wie über die Maßen grausame, ergeht freilich auch eine um so grimmigere Rache3: so über die Madianiten, die durch ihre Weiber gar viele aus dem S. 77 Judenvolk zur Sünde verleitet hatten, weshalb auch Gottes Zorn über das Volk der Väter erging. Und die Folge davon: Moses ließ niemand von denselben am Leben4. Gegen die Gabaoniten hingegen, die mehr durch List als Krieg das Vätervolk befehdet hatten, führte Jesus (Josue) keinen Vernichtungskampf, sondern ließ ihnen das nur in Form einer Auflage fühlen5. Die Syrer aber hatte Elisäus, nachdem er sie ob der Belagerung (Samarias) mit Blindheit geschlagen hatte, so daß sie nicht sehen konnten, wohin sie den Fuß setzten, in die Stadt geführt, ließ sie jedoch, obwohl der König von Israel es wollte, nicht erschlagen, sondern verlangte: „Die, welche du nicht mit deiner Lanze und deinem Schwerte gefangen hast, sollst du auch nicht erschlagen; setze ihnen Brot und Wasser vor, daß sie essen und trinken, entlassen werden und zu ihrem Herrn zurückkehren!“6 Sie sollten auf diese Menschlichkeit (künftig) ein friedliches Verhalten an den Tag legen. So standen denn auch späterhin die syrischen Seeräuber von ihren Einfällen in das Land Israel ab.
140. Wenn sonach die Gerechtigkeit selbst im Kriege in Kraft bleibt, wieviel mehr muß sie im Frieden beobachtet werden! Auch diesen Edelsinn erwies der Prophet denen, die zu seiner Ergreifung gekommen waren. Denn also lesen wir: Als der König in Erfahrung gebracht hatte, daß Elisäus es sei, der allen seinen Plänen und Anschlägen im Weg stehe, hatte er sein Heer ausgesendet, um ihn rings zu belagern. Da nun der Diener des Propheten, Giezi, dieses Heer sah, fing er an, für sein Leben zu fürchten und zu bangen. Doch der Prophet sprach zu ihm: „Fürchte nicht! Denn mehr sind mit uns als mit jenen.“ Da betete der Prophet, daß seinem Diener die Augen geöffnet würden, und sie wurden geöffnet. Und es sah nun Giezi den ganzen Berg voll Rosse und Wagen rings um Elisäus. Und als jene herabkamen, rief der Prophet aus: „Der Herr S. 78 schlage das Heer Syriens mit Blindheit!“ Und als ihm die Bitte erhört war, sprach er zu den Syrern: „Kommt mir nach, so will ich euch zu dem Menschen führen, den ihr sucht!“ Da sahen sie den Elisäus, den sie ergreifen wollten, aber konnten ihn, obschon sie ihn sahen, nicht festnehmen7. So ist also klar, daß man auch im Kriege Treue und Gerechtigkeit halten muß, und daß es nicht schicklich sein kann, wenn man die Treue bricht.
141. Die Alten hatten denn auch für die Feinde eine schonende Bezeichnung: sie nannten sie die ‚Fremden‘. Nach altem Brauch nämlich hießen die Feinde ‚Fremde‘8. Es ist auch dies, so läßt sich behaupten, gleichfalls nur eine Entlehnung von unseren Autoren. Die Hebräer nämlich nannten ihre Gegner die ‚Stammverschiedenen‘ (allophyli)9, d. i. nach lateinischer Bezeichnung ‚Ausländer‘ (alienigenae). So lesen wir im ersten Buch der Könige [= 1. Samuel] also: „Und es geschah an jenen Tagen, da sammelten sich die Ausländer zum Kampf gegen Israel“10.
142. Das Fundament der Gerechtigkeit ist der Glaube11. Denn „der Gerechten Herz sinnt Glauben“12, und „der Gerechte, der sich anklagt, stellt die Gerechtigkeit auf den Glauben“13. Dann nämlich tritt seine S. 79 Gerechtigkeit zutage, wenn er die Wahrheit bekennt. So spricht denn auch der Herr durch Isaias: „Sieh, ich lege einen Stein in die Grundfeste Sions“14, d. i. Christus in die Grundfesten der Kirche. Christus nämlich ist der Glaube aller, die Kirche aber eine gewisse Form der Gerechtigkeit, das gemeinsame Recht aller: gemeinsam ist ihr Beten, gemeinsam ihr Wirken, gemeinsam ihre Prüfung15. So ist denn, wer sich selbst verleugnet, gerecht, Christus würdig. Darum stellte auch Paulus Christus als das Fundament hin16, damit wir auf ihn die Werke der Gerechtigkeit stellen; denn der Glaube ist das Fundament, in den Werken aber liegt entweder, falls sie bös sind, Ungerechtigkeit, oder aber, falls sie gut sind, Gerechtigkeit.
Über die Kriegsrechte (iura belli), bezw. Kriegspflichten (bellica officia) handelt Cic. l. c. 11, 34—13, 40. ↩
Vgl. Cic. l. c. 10, 33; 13, 39 f. ↩
Vgl. Cic. l. c. 11, 35; 12, 38. ↩
Num. 31, 1 ff. ↩
Jos. 9, 3 ff. ↩
4 Kön. 6, 22 [= 2 Könige]. ↩
4 Kön. 6, 12—20 [= 2 Könige]. ↩
Cic. l. c. 12, 37. Die Bezeichnung war weniger eine Abschwächung des Begriffes ‚Feind‘, als vielmehr eine Verschärfung des Begriffes ‚Fremdling‘; ‚fremd‘ und ‚feindlich‘ deckten sich. ↩
Άλλόφυλοι [Allophyloi] (= die einem fremden Stamme Angehörenden) war in Wirklichkeit nicht die Bezeichnung für Feinde überhaupt, sondern die LXX-Übersetzung für das hebräische Wort pesištim = Philister. Tatsächlich waren freilich die Philister die grimmigsten Feinde Israels, was zum Mißverständnis beigetragen haben mag. ↩
1 Kön. 4, 1 [= 1 Samuel]. ↩
Der Satz wörtlich nach Cic l. c. 7, 23. Während aber Ambrosius fides als religiösen Begriff im Sinn von ‚Glaube‘ nimmt, versteht es Cicero als ethischen Begriff im Sinn von ‚Redlichkeit‘, d. i. „Festigkeit und Wahrhaftigkeit in Versprechen und Verträgen“. ↩
Sprichw. 15, 28. ↩
Vgl. Sprichw. 18, 17. ↩
Is. 28, 16. ↩
Über diese Auffassung von der Kirche siehe Niederhuber, Die Lehre des hl. Ambrosius vom Reiche Gottes auf Erden, Mainz 1904, S. 207. ↩
1 Kor. 3, 11. ↩
