XLIII. Kapitel
Von der Mäßigkeit: Name und Aufgabe der vierten Kardinaltugend (210). Sittsamkeit (211), Umgang mit älteren Personen (212), Erwägung der näheren Umstände des Handelns (213—214) wesentliche Erfordernisse einer rechten Lebensordnung.
210. Nachdem wir von drei (Kardinal-) Tugenden gesprochen haben, erübrigt noch, von der vierten zu S. 112 sprechen. Ihr Name heißt Mäßigkeit und Selbstbeherrschung1. In ihr erblickt und sucht man vor allem die Ruhe der Seele, das Streben nach Sanftmut, den Vorzug der Selbstbeherrschung, die Pflege des Sittlichguten, den Sinn für das Schickliche.
211. Wir sollen eine gewisse Lebensordnung einhalten. Die ersten Grundvoraussetzungen dazu sind von der Sittsamkeit abzuleiten: sie ist die Genossin und Vertraute eines gelassenen Geistes, flieht Ausgelassenheit, hält jeder Völlerei sich fern, liebt die Nüchternheit, pflegt die Ehrbarkeit und bestrebt sich jenes Schicklichen.
212. Hieran reihe sich die Wahl im Umgang. Nur ganz erprobten älteren Personen sollen wir uns anschließen. Der Verkehr mit Altersgenossen bietet süßeren Genuß, der mit alten Personen bietet größere Sicherheit. Eine Art Lebensschule und Lebenseinführung, veredelt er das sittliche Verhalten der Jugend und verleiht ihm gleichsam den Purpur der Rechtschaffenheit. Wenn Personen ohne Ortskenntnis gerne mit des Weges kundigen Personen eine Reise unternehmen, wieviel mehr sollten junge Leute an der Seite der alten den ihnen neuen Lebensweg antreten, um nicht in die Irre gehen und vom wahren Tugendpfade abweichen zu können? Nichts Schöneres gibt es, als gerade sie zu Lehrern wie zu Zeugen des Lebens zu haben.
213. Ebenso ist bei jedem Tun zu fragen, was sich nach Person, Zeit und Alter schickt, desgleichen was den geistigen Anlagen eines jeden entspricht. Denn oft ziemt dem einen nicht, was dem andern ziemt. Das eine paßt für einen jungen, das andere für einen alten Menschen; das eine in Gefahr, anderes im Glück.
S. 113 214. David tanzte vor der Bundeslade des Herrn2, Samuel tanzte nicht. Ersterer verdiente deswegen keinen Tadel, freilich letzterer noch mehr Lob. Er (David) verstellte sein Gesicht vor dem Könige namens Anchus3. Doch hätte er das nicht aus Furcht getan, erkannt zu werden, hätte er nimmer dem Vorwurf der Leichtfertigkeit entgehen können. Ebenso hat Saul, umgeben von einem Chor von Propheten, auch seinerseits geweissagt; und nur über ihn, den Unwürdigen, raunte man sich zu: „Auch Saul unter den Propheten“4.
Vgl. über die Kardinaltugend der Mäßigkeit und ihren Pflichtenkreis Cic. l. c. 27, 93―42, 151. Tatsächlich kommt hier nur die äußere Seite derselben, das Schickliche (decorum, Anstand), nicht das Sittlichgute (honestum) zur Behandlung. ↩
2 Kön. 6, 14 [= 2 Samuel]. ↩
1 Kön. 21, 12 f. [= 1 Samuel]. Der Name des Königs lautet im Hebr. (Vulg.) Achis. ↩
1 Kön. 19, 23 f. [= 1 Samuel]. ↩
