XLV. Kapitel
S. 115 Von der Mäßigkeit: Verhältnis des Schicklichen zum Sittlichguten (219); ihre mehr formale als sachliche Verschiedenheit (220). Biblische Beleuchtung beider Begriffe (221).
219. Halten wir denn fest an der Sittsamkeit und jener Selbstbeherrschung, welche den Schmuck des ganzen Lebens erhöht! Denn nichts Geringes ist es, allem sein Maß anzuweisen und seine Ordnung zu bestimmen. Und doch leuchtet fürwahr gerade hierin das hervor, was man das Schickliche nennt. Dieses nämlich ist mit dem Sittlichguten so eng verbunden, daß es unzertrennlich davon ist1. Ist doch das Schickliche auch gut, das Gute schicklich, so daß es sich mehr um eine Verschiedenheit im Ausdruck als um einen Unterschied in der Tugend handelt. Ein Unterschied zwischen ihnen läßt sich denken, nicht ausdrücken2.
220. Um nun doch den Versuch zu machen, einigen Unterschied herauszustellen, so ist das Sittlichgute, was für den Leib das Wohlbefinden, gleichsam die Gesundheit ist; die Schicklichkeit aber, was seine Anmut und Schönheit ist3. Wie nun die Schönheit sichtlich über die Gesundheit und das Wohlbefinden hinaus einen Vorzug besagt und gleichwohl nicht ohne diese bestehen kann und in keiner Weise davon sich trennen läßt, weil es ohne blühende Gesundheit keine Schönheit und Anmut geben kann: so schließt auch das Sittlichgute jenes Schickliche derart in sich, daß es sich augenscheinlich von ihm herleitet und ohne dasselbe nicht bestehen kann. So bedeutet denn das Gute sozusagen die Gesundheit unseres gesamten Tuns und Treibens, das Schickliche gleichsam seine äußere Schönheit: es ist eins mit dem Guten und nur im Denken davon S. 116 verschieden. Denn wenn es auch anscheinend einen besonderen Vorzug darstellt, so gründet es doch im Guten, aber wie eine einzig schöne Blüte: ohne sie fällt sie ab, in ihr blüht sie. Was ist denn die Ehrbarkeit anders als etwas, was die Schande wie den Tod flieht? Was aber ist das Unehrbare anders als Dürre und Tod, die es herbeiführt? Solange nun die Tugend sproßt, leuchtet daran jenes Schickliche als deren Blüte, weil die Wurzel gesund ist; ist dagegen die Wurzel unserer Tugendhaftigkeit krank, treibt sie keine Blüte.
221. Man findet das noch bedeutend klarer bei den Unsrigen ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“4. Und der Apostel mahnt: „Wie am Tage wandelt ehrbar!“5 Was (hier) die Griechen εὐσχημόνως [eus-chēmonōs] nennen, das bezeichnet aber eigentlich: ‚von guter Haltung‘, ‚von Wohlgestalt‘. Da nun Gott den ersten Menschen schuf, gab ihm seine formende Hand die gute Haltung, die gute Gliederung und verlieh ihm ein gar schönes Aussehen. Nachlaß der Sünden hatte er ihm nicht verliehen; den Schmuck der menschlichen Erlösung empfing er vielmehr erst, nachdem ihn der in Knechtsform und Menschengestalt Erschienene im Geist erneut und begnadet hatte. Daher des Propheten Ausspruch: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“6. An einer anderen Stelle sodann bekennt er: „Dir geziemt Lobgesang, o Gott, auf Sion“7. Das will sagen: Es ist geziemend und ehrbar, daß wir Dich fürchten, Dich lieben, Dich bitten, Dich ehren; denn es steht geschrieben: „Alles von euch geschehe in Ehrbarkeit!“8 Freilich wir können auch einen Menschen fürchten, lieben, bitten und ehren: Lobgesang singt man einzig Gott. Was wir Gott darbringen, das muß, wie wir schicklich glauben, alles andere übertreffen. Auch der Frau geziemt, „in S. 117 zierlichem Gewände zu beten“9; insbesonders aber steht ihr wohl an, „verschleiert zu beten“10, zu beten und in Verbindung mit einem guten Wandel die Keuschheit zu geloben11.
Wörtlich nach Cic. l. c. 27, 94. ↩
Wörtlich nach Cic. l. c. 27, 94; vgl. l. c. 27, 95; 35, 126. ↩
Der Vergleich (ohne nähere Ausführung) Cic. l. c. 27, 95. ↩
Ps. 92, 1 [Hebr. Ps. 93, 1]. Der lat. Ausdruck decor bezeichnet sowohl das physisch Schöne, wie das sittlich Schöne (Schickliche). ↩
Röm. 13, 13. ↩
Ps. 92, 1 [Hebr. Ps. 93, 1]. ↩
Ps. 64, 2 [Hebr. Ps. 65, 2]. ↩
1 Kor. 14, 40. ↩
1 Tim. 2, 9. ↩
1 Kor. 11, 13. ↩
Vgl. 1 Tim. 2, 10. ↩
