XLVIII. Kapitel
Von der Mäßigkeit: Dreifaches Verhalten gegen erlittenes Unrecht: der gewöhnliche Mensch braust auf (233), der Fortgeschrittene schweigt (234), der Vollkommene freut sich darüber, wie Paulus (235) und David (236—238). Das Vollkommene, d. i. das Ewige ist anzustreben. Hier schauen wir nur im Bilde (239).
233. Wir wollen nun womöglich zeigen, wie es in der göttlichen Schrift dreierlei Menschen gibt, die Unrecht leiden. Die erste Klasse sind jene, welche der Sünder verhöhnt, beschimpft, verspottet. Da es zu Unrecht geschieht, brennt heißer die Schamröte, heftiger der Schmerz. Diesen gleichen eine ganze Menge von meinem Stand und meinem Rang. Fügte man mir Schwächling eine bloße Beleidigung zu, würde ich, obwohl ein Schwächling, vielleicht das Unrecht gegen mich verzeihen. Macht man mich zum Verbrecher, bin ich, obschon ich mich von solchem Vorwurf frei weiß, nicht so großmütig, daß ich mich mit meinem Gewissen S. 122 zufrieden gebe, sondern wünsche in meiner Schwachheit den Schandfleck wegzuwischen, der mein empfindliches Schamgefühl verletzt. So fordere ich denn „Aug’ um Aug’ und Zahn um Zahn“1 und vergelte Schimpf mit Schimpf.
234. Bin ich aber ein Fortschreitender, wenn auch noch kein Vollkommener, dann erwidere ich die Schmach nicht. Und wenn jener meine Ohren mit Schimpf überschüttet und mit Schmähungen überschwemmt: ich schweige und erwidere nichts.
235. Bin ich aber ein Vollkommener — beispielsweise rede ich so; denn in Wahrheit bin ich ein Schwächling —: bin ich ein Vollkommener, segne ich den Schmähenden, wie auch Paulus ihn segnete, der beteuert: „Man schmäht uns, und wir segnen“2. Denn er hatte das Wort vernommen: „Liebet eure Feinde, betet für eure Verleumder und Verfolger!“3 Darum also litt und trug Paulus die Verfolgung4, weil er ob des Lohnes der Kindschaft Gottes, der im Fall der Feindesliebe in Aussicht gestellt ward5, die menschliche Leidenschaft besiegte und beschwichtigte.
236. Aber auch vom heiligen David können wir dartun, wie er auch in dieser Tugendart dem Paulus nicht unebenbürtig war. Und zwar schwieg er zunächst zur Schmähung des Sohnes Semeis und zu dessen Vorwurf auf Verbrechen und verdemütigte sich und äußerte bei seinem guten Gewissen, d. i. im Bewußtsein seines guten Handelns nichts. Sodann aber wünschte er sich geradezu die Schmähung, weil er durch solche Schmähung die göttliche Barmherzigkeit zu erlangen hoffte6.
237. Doch sieh, wie er Demut, Gerechtigkeit und Klugheit wahrte, um der Gnade vom Herrn sich würdig S. 123 zu machen. Sein erstes Wort lautete: „Deshalb flucht er mir, weil der Herr ihm sagte, er solle fluchen“7. Da hast du die Demut; denn Gottes Gebot glaubte er als armseliger Knecht mit Gleichmut tragen zu müssen. Seine zweite Äußerung lautete: „Sieh, mein Sohn, mein leibliches Kind stellt mir nach dem Leben“8. Da hast du die Gerechtigkeit; denn wenn wir von den Unsrigen noch Schlimmeres erleiden, warum sollten wir ungehalten sein über das, was uns Fremde zufügen? Seine dritte Rede war: „Laß ihn schmähen, weil der Herr es ihm geheißen, um meine Demut zu sehen; und der Herr wird mein Vergelter sein für diese Schmähung“9. Und nicht bloß die Lästerung desselben ertrug er, sondern ließ ihn auch, da er Steine nach ihm warf und ihm nachschlich, unbehelligt, ja schenkte ihm sogar nach dem Siege gern Verzeihung, als er darum bat10.
238. Das führte ich nun deshalb an, um zu zeigen, wie der heilige David im Geiste des Evangeliums nicht bloß nicht den Beleidigten spielte, sondern seinem Lästerer sogar noch gewogen, über Unbilden mehr erfreut als erbittert war und sich Lohn dafür versprach. Doch wiewohl schon vollkommen, strebte er nach immer größerer Vollkommenheit. Wie brennendes Feuer empfand er als Mensch den Schmerz des Unrechts, doch kraft des Geistes blieb er, ein guter Streiter, sieghaft; ein tapferer Wettkämpfer, standhaft. Des Duldens Zweck aber war die Erwartung der Verheißungen. Darum sein Flehen: „Mache mir kund, Herr, mein Ziel und Ende und welches die Zahl meiner Tage ist, damit ich weiß, was mir noch fehlt!“11 Nach jenem Ziel der himmlischen Verheißungen fragt er, bezw. nach jenem Ende, da „ein jeder in seiner Ordnung aufersteht: als Erstling Christus; danach die, welche Christus angehören, welche an seine Ankunft geglaubt haben; hierauf folgt das S. 124 Ende“12. Nach der Übergabe des Reiches nämlich an Gott und den Vater und nach der Vernichtung aller Mächte beginnt nach der Versicherung des Apostels die Vollendung13. Hier ist Behinderung, hier Schwäche selbst bei Vollkommenen, dort die volle Vollendung. Darum Davids Frage nach jenen Tagen des ewigen Lebens, „den seienden“, nicht „den vergehenden“, um zu erkennen, was ihm noch fehle; welches das Land der Verheißung sei mit seinem ewigen Fruchtertrage; welches die erste Wohnung beim Vater sei, welches die zweite, welches die dritte, woselbst jeder nach Verdienst seine Ruhe findet.
239. Das also müssen wir erstreben, was die Vollendung, was die Wahrheit in sich trägt. Hier haben wir den Schatten, hier das Bild, dort die Wahrheit: den Schatten im Gesetz, das Bild im Evangelium, die Wahrheit im Himmel. Ehedem brachte man ein Lamm, brachte man ein Kalb zum Opfer dar, jetzt wird Christus geopfert. Er wird geopfert als Mensch, als Leidensfähiger; und zwar ist er selbst der Priester, der sich zur Vergebung unserer Sünden opfert: hier im Bilde, dort in der Wahrheit, wo er beim Vater als Anwalt für uns eintritt. Hier wandeln wir im Bilde, schauen wir im Bilde; dort von Angesicht zu Angesicht, woselbst die volle Vollendung winkt, weil alle Vollendung in der Wahrheit beruht.
Matth. 5, 38. ↩
1 Kor. 4, 12. ↩
Matth. 5, 44. ↩
1 Kor. 4, 12. ↩
Matth. 5, 44 f. ↩
2 Kön. 16, 5 ff. [= 2 Samuel]. ↩
2 Kön. 16, 10 [= 2 Samuel]. ↩
2 Kön. 16, 11 [= 2 Samuel]. ↩
2 Kön. 16, 11 f. [= 2 Samuel]. ↩
2 Kön. 19, 16 ff. [= 2 Samuel]. ↩
Ps. 38, 5 [Hebr. Ps. 39, 5]. ↩
1 Kor. 15, 23 f. Über die Unterscheidung verschiedener Auferstehungsgruppen (ordines) bei Ambrosius vgl. Allg. Einl. Bd. I S. CXVI f. ↩
1 Kor. 15, 24. ↩
