XXVIII. Kapitel
Von der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit und Freigebigkeit die Grundpfeiler des Gemeinschaftslebens (130). Ablehnung zweier von der Philosophie S. 73 angenommenen Funktionen der Gerechtigkeit (131—132). Die einschlägige stoische Lehre eine Entlehnung aus der Hl. Schrift (133—134). Folgerungen aus dem Axiom: der Mensch ist des Menschen wegen da (135—136). Habsucht und Machtgelüste Feinde der Gerechtigkeit (137—138).
130. Die Gerechtigkeit bezieht sich auf das Gesellschafts- und Gemeinschaftsleben des Menschengeschlechtes. Das Gesellschaftsleben beruht nämlich auf einem zweifachen Grund, dem der Gerechtigkeit und dem der Wohltätigkeit, auch Freigebigkeit und Wohlwollen genannt1. Die Gerechtigkeit scheint mir erhabener, die Freigebigkeit liebenswürdiger zu sein. Erstere hält sich an Strenge, letztere an Güte.
131. Doch schon die erste Funktion der Gerechtigkeit, welche die Philosophen dafür halten, bleibt bei uns ausgeschlossen. Dieselben nennen nämlich als erste Regel der Gerechtigkeit, „daß man niemand Schaden zufügen dürfe — außer wenn man durch ein Unrecht dazu gereizt ist“2. Diese Regel wird nämlich kraft des Evangeliums umgestoßen. Denn die Schrift will in uns den Geist des Menschensohnes haben, der gekommen ist, um Gnade ergehen zu lassen, nicht Unrecht zuzufügen3.
132. Eine weitere Norm der Gerechtigkeit beruht ihrer Ansicht nach darin, daß man in den allgemeinen, d. i. öffentlichen Gütern öffentlichen Besitz, in den privaten Gütern Privatbesitz zu erblicken habe4. Auch das entspricht nicht der Natur. Denn die Natur bringt alle Erzeugnisse zum gemeinsamen Gebrauch für alle hervor. Denn Gott hieß alle Erzeugnisse zu dem Zweck sprossen, daß jedermann sich der gemeinsamen Nahrung erfreuen und die Erde gleichsam der gemeinsame Besitz S. 74 aller sein sollte. So schuf also die Natur ein gemeinsames Besitzrecht für alle; Anmaßung machte daraus ein Privatrecht. Man rühmt in diesem Punkt den Stoikern nach, eine Lieblingsauffassung derselben gehe dahin, daß „alle Erzeugnisse auf Erden zum Gebrauch für die Menschen geschaffen würden, die Menschen aber der Menschen wegen geboren seien, um sich gegenseitig nützen zu können“5.
133. Woher anders als aus unseren Schriften entlehnten sie diesen Ausspruch? Schon Moses schrieb nämlich, Gott habe gesprochen: „Laßt uns den Menschen nach unserem Bild und nach unserem Gleichnis schaffen! Und er soll Gewalt haben über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und die Tiere und alles, was kriecht auf Erden!“6 Und David ruft aus: „Alles hast Du ihm unter die Füße gelegt, Schafe und Rinder insgesamt, dazu noch das Vieh des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres“7. So haben sie also die Behauptung, alles sei den Menschen unterworfen, unseren Autoren entnommen und nehmen eben darum an, es sei des Menschen wegen hervorgebracht worden.
134. Auch daß der Mensch des Menschen wegen geboren sei, finden wir in den Büchern Moses ausgesprochen, worin der Herr spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist: laßt uns demselben eine Gehilfin schaffen, die ihm gleiche!“8 Zur Hilfeleistung wurde sonach das Weib dem Manne gegeben; und sie sollte gebären, daß der Mensch dem Menschen helfe. So heißt es denn auch von Adam vor der Bildung des Weibes: „Es fand sich keine Gehilfin, die ihm ähnlich war“9. Der Mensch konnte nämlich nur vom Menschen Hilfe finden. Unter allen lebenden Wesen gab es nun kein ihm ähnliches: es fand sich mit einem Wort „keine S. 75 Gehilfin“ für den Menschen. Zur Hilfeleistung stand sonach das weibliche Geschlecht zu erwarten.
135. So sollen wir uns denn nach Gottes Willen, oder schon kraft des natürlichen Bandes, das uns umschlingt, gegenseitig unterstützen, in Gefälligkeiten wetteifern, gleichsam alles Nutzbare zur allgemeinen Verfügung stellen, einer dem anderen, um mit dem Schriftwort zu reden10, helfen, sei es durch Dienstbeflissenheit, sei es durch Gefälligkeit oder Geld oder Tat oder sonstwie, auf daß der Segen des Gemeinschaftslebens unter uns sich mehre11. Selbst aus Furcht vor Gefahr soll niemand von dieser Pflicht sich abwendig machen lassen, sondern alles für sein eigen halten, das Schlimme wie das Gute. So sträubte sich denn Moses nicht, für sein heimisches Volk schwere Kämpfe auf sich zu nehmen, zitterte nicht vor den Waffen des allgewaltigen Königs und bangte nicht vor der Wildheit seiner unmenschlichen Barbarei, sondern schlug sein Leben in die Schanze, um seinem Volke die Freiheit wiederzubringen.
136. Groß ist daher der Glanz der Gerechtigkeit, die, mehr anderen als sich geboren12, unser Gemeinschafts- und Gesellschaflsleben fördert, ihren erhabenen Beruf wahrt, alles ihrem Urteil unterwürfig zu erhalten, anderen zu helfen, Geld darzuleihen, Gefälligkeiten nicht abzuschlagen, fremde Gefahren auf sich zu nehmen.
137. Wer wünschte nicht diese Tugendfeste zu behaupten, es müßte denn vor allem die Habsucht die Kraft der so erhabenen Tugend schwächen und brechen?13 Im Verlangen nämlich, das Vermögen zu vermehren, Geld aufzuhäufen, Ländereien in Besitz zu bekommen, durch Reichtum zu glänzen, streifen wir die Norm der Gerechtigkeit ab und verlieren den Sinn für S. 76 das gemeinnützige Wohltun. Wie kann denn einer gerecht sein, der dem Nächsten etwas zu entreißen sucht, was er für sich begehrt?
138. Auch Machtgelüste entnervt die mannhafte Gerechtigkeit14. Wie kann denn einer für andere eintreten, der sich andere zu unterjochen sucht? Und wie dem Wehrlosen gegen Gewalttätige Hilfe leisten, wenn er selbst es mit schwerer Gewalttat auf dessen Freiheit absieht?
Nach Cic. l. c. 7, 20; vgl. 14, 42. ↩
Cic. l. c. 7, 20. ↩
Vgl. Luk. 9, 55 f. ↩
Cic. l. c. 7, 20 f. Auch Cicero findet den Privatbesitz keineswegs in der Natur selbst begründet. ↩
Die stoische Auffassung wörtlich aus Cic. l. c. 7, 22. ↩
Gen. 1, 26. ↩
Ps. 8, 8 f. [Hebr. Ps. 8, 8 f.]. ↩
Gen. 2, 18. ↩
Gen. 2, 20. ↩
Vgl. Gal. 6, 2. ↩
Nach Cic. l. c. 7, 22. ↩
Cic. l. c. 7, 22 mit Berufung auf Plato. ↩
Vgl. Cic. l. c. 8, 25. ↩
Vgl. Cic. I. c. 8, 26 f. ↩
