XXXV. Kapitel
Vom Starkmut: Einteilung und Vorzüglichkeit desselben (175). Die kriegerische Tapferkeit bedarf S. 95 notwendig der Gerechtigkeit (176) und Klugheit zu Begleiterinnen (177). Nicht weniger als im Kriege bewährt sich der Starkmut im Glaubenskampf und Martyrium (178).
175. Einläßlich genug haben wir dort, wo wir von der Gerechtigkeit handelten, Wesen und Bedeutung des Sittlichguten besprochen. Jetzt wollen wir von der Tapferkeit handeln1. Als hätte sie etwas vor den übrigen Tugenden voraus, zerfällt sie in die kriegerische und heimische Tapferkeit2. Freilich scheint das Interesse an den Kriegsangelegenheiten unserem Dienst bereits fernzuliegen; denn mehr auf einen geistigen als physischen Dienst ist unser Sinnen und Trachten gerichtet, und nicht dem Waffenhandwerk, sondern der Friedenssache gilt unser Handel und Wandel. Dagegen ernteten unsere Altvordern, wie Jesus Nave (Josue), Jeroboal (Gedeon), Samson, David auch im Krieg den höchsten Ruhm.
176. Die Tapferkeit ist sonach eine Tugend, gewissermaßen über die anderen erhaben, doch nimmer ohne deren Begleitung. Denn sie darf sich selbst nicht trauen. Andernfalls ist die Tapferkeit ohne die Gerechtigkeit nur ein Hebel zum Bösen. Denn je stärker sie ist, um so mehr neigt sie zur Unterdrückung des Schwächeren3. Und doch hält man dafür, daß auch in Sachen des Krieges darauf zu achten ist, ob Kriege gerecht oder ungerecht sind.
177. Nie führte David einen Krieg, ohne dazu gereizt zu sein. Daher hatte er die Klugheit zur Begleiterin der Tapferkeit in der Schlacht. Selbst da er wider Goliath, einen Unmenschen an Leibesgröße, zum Einzelkampf sich anschickte, wies er die Waffen zurück, die S. 96 ihn beschwerten4; denn die Manneskraft stützt sich lieber auf den eigenen Arm als auf fremde Deckung. Sodann streckte er den Feind mit einem Steinwurf aus größerer Entfernung, um ihn wuchtiger zu treffen, nieder. Auch später fing er nie einen Krieg an, ohne den Herrn zu Rate gezogen zu haben5. Deshalb ging er aus allen Schlachten als Sieger hervor. Die Hand bis ins höchste Greisenalter am Schwerte, mischte er sich in Kriege wider die Titanen als Kämpfer unter die wilden Heerscharen, voll Verlangen nach Ruhm, unbekümmert um sein Leben6.
178. Doch nicht das allein nur ist ruhmvolle Tapferkeit: uns gilt vielmehr auch die Tapferkeit jener Gläubigen für herrlich, die kraft des Glaubens durch ihre Seelengröße „der Löwen Rachen verschlossen, die Gewalt des Feuers auslöschten, der Schärfe des Schwertes entrannen, aus Schwachen zu Helden erstarkten“7; die nicht, von Gefolgschaft und Legionen umgeben, im Verein mit vielen anderen den gemeinsamen Sieg, sondern allein durch ihre bloße Seelenkraft den Triumph über die Ruchlosen davontrugen. Wie unbesieglich war Daniel, der vor den Löwen, die zu seinen Seiten brüllten, nicht zitterte! Die Bestien knirschten — und er aß8.
Von der dritten Kardinaltugend handelt Cic. l. c. 18, 61—26, 92. ↩
Vgl. Cic. l. c. 22, 74—78. Cicero bekämpft die Meinung, Kriegstaten seien höher einzuschätzen als entsprechende Friedenswerke. ↩
Vgl. Cic. l. c. 19, 62―65. ↩
1 Kön. 17, 38 ff. [= 1 Samuel]. ↩
2 Kön. 5, 19. 23. 25 [= 2 Samuel]. ↩
2 Kön. 21, 15 ff. [= 2 Samuel]. ↩
Hebr. 11, 33 f. ↩
Dan. 14, 38. ↩
