XXXIV. Kapitel
S. 94 Vom Wohlwollen: Weitere Früchte des Wohlwollens (173). Abschließende Urteile hierüber (174).
173. Wohlwollen pflegt selbst dem Zorn das Schwert zu entwinden. Wohlwollen macht, daß des Freundes Wunden nützlicher sind als freiwillig gebotene Feindesküsse1. Wohlwollen macht, daß aus mehreren einer wird; denn sind mehrere Freunde, werden sie eins2, indem ein Geist, eine Auffassung sie beseelt. Zugleich gewahren wir, daß selbst Zurechtweisungen bei der Freundschaft willkommen sind3. Sie haben ihren Stachel, schmerzen aber nicht. Wohl treffen nämlich die Strafreden unser Herz, doch das besorgte Wohlwollen erfreut uns.
174. Alles in allem: Man schuldet nicht immer allen die gleichen Dienste. Und nicht die Personen sind stets in erster Linie zu berücksichtigen, sondern gar manchmal die Umstände und die Zeit, so daß man mitunter lieber dem Nachbar als dem Bruder helfen soll4. Auch Salomo beteuert nämlich: „Besser ein Nachbar in nächster Nähe als ein Bruder, der in der Ferne wohnt“5. Eben darum vertraut einer oft lieber einem wohlwollenden Freunde als einem blutsverwandten Bruder. Soviel vermag Wohlwollen, daß es vielfach über Lieblinge, die uns von Natur verbunden sind, den Sieg davonträgt.
