XXXI. Kapitel
Von der Wiedererstattung des Guten: Sie ist Pflicht und mißt nicht mit gleichem, sondern mit reichlicherem Maße (160) nach dem Vorgang der Natur (161), der Gastregel Salomos, der Verheißung Christi (162—164).
160. Schön ist’s sodann, vorzugsweise den zu berücksichtigen, der dir, sei es eine Wohltat erwiesen, sei es ein Geschenk gemacht hat, falls er selbst in Not geraten ist1. Was wäre auch so pflichtwidrig, als Empfangenes nicht zu vergelten? Und nicht mit gleichem, sondern mit reichlicherem Maß, glaube ich, sollte man vergelten2 und hierbei den praktischen Wert einer Wohltat ins Auge fassen, um auch seinerseits soweit zu helfen, daß man der traurigen Lage des Dürftigen abhilft. In der Gegenleistung die Leistung einer Wohltat nicht überbieten, heißt weniger leisten; denn wer zuerst gibt, hat zeitlich den Vorsprung voraus, in der Menschenfreundlichkeit den ersten Schritt getan.
161. Wir sollen daher auch in diesem Punkt die natürliche Gepflogenheit der Erde nachahmen, die den aufgenommenen Samen in der Regel vielfältiger zurückerstattet, als sie ihn empfängt3. Dir gilt sonach das Schriftwort: „Wie ein Saatfeld ist der törichte Mensch und wie eine Weinpflanzung der Geistesarme: läßt man ihn brach liegen, wird er veröden“4. Wie ein Saatfeld ist auch der Weise: er legt sich gleichsam den aufgenommenen Samen auf Zinsen an und stattet ihn S. 88 in größerem Maß zurück. Die Erde nun bringt entweder von selbst ihre Früchte hervor oder erstattet und gibt sie, wenn sie ihr anvertraut wurden, in reichlicherer Fülle wieder. Beides schuldest du gleichsam nach dem von der Mutter (Erde) ererbten Brauch, um nicht brach zu bleiben gleich einem unfruchtbaren Acker. Doch gesetzt den Fall, ein Nichtgeben lasse sich entschuldigen: wie ließe sich ein Nichtwiedererstatten entschuldigen? Ein Nichtgeben geht schwerlich, ein Nichtwiedererstatten aber gar nicht an.
162. Daher Salomos schöner Ausspruch: „Sitzst du bei einem Mächtigen zu Tische, achte weise darauf, was dir vorgesetzt wird, und strecke deine Hand aus im Bewußtsein, daß auch du solches zubereiten mußt. Bist du aber ein Nimmersatt, laß dich’s nicht nach seinen Bissen gelüsten; denn sie enthalten fälschlich Leben“5. Diese Gedanken schrieben wir nieder im Verlangen, sie nachzuahmen. Gnade erweisen ist gut; ganz verhärtet aber müßte jener sein, der sie nicht zu erwidern wüßte. Selbst die Erde legt das Beispiel der Menschenfreundlichkeit nahe. Sie spendet von selbst Früchte, die man nicht säte; sie gibt ferner das Empfangene in vielfältiger Frucht wieder. Geld, das man dir vorzählte, darfst du nicht ableugnen: wie dürftest du eine empfangene Gefälligkeit unerwidert lassen? Auch unter den Sprüchen findest du, daß diese Wiedererstattung einer Gefälligkeit bei Gott gar viel zu gelten pflegt, so daß sie selbst am Tage des (Welt-) Unterganges, da die Sünden das Übergewicht bekommen könnten6, Gnade findet7. Und was soll ich noch andere Beispiele anziehen, da der Herr selbst den Verdiensten der Heiligen im Evangelium überreichliche Vergeltung verheißt und zum guten Wirken mit den Worten auffordert: „Vergebt, und es wird euch vergeben werden! Gebt, S. 89 und es wird euch gegeben werden! Ein gutes, gerütteltes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß geben“8.
163. So besteht auch jenes Gastmahl Salomos nicht aus Speisen, sondern aus guten Werken. Woran laben sich denn die Seelen besser als an den guten Werken? Oder was anders könnte den Geist der Gerechten so leicht sättigen als das Bewußtsein des guten Handelns? Welch köstlichere Speise aber gäbe es, als den Willen Gottes zu tun? Diese Speise allein hatte der Herr in Überfluß, wie er beteuerte. So steht im Evangelium geschrieben: „Meine Speise ist es, den Willen meines Vaters zu tun, der im Himmel ist“9.
164. Erfreuen wir uns an jener Speise, welche der Prophet im Auge hatte mit der Aufforderung: „Freue dich im Herrn!“10 An jener Speise erquicken sich jene, welche mit bewunderungswürdigem Geiste höhere Freuden erfassen lernten; welche zu verstehen vermögen, welcher Art jene reine und unsichtbare geistige Freude ist. Laßt uns denn die Brote der Weisheit essen und uns sättigen am Worte Gottes! Denn nicht im Brote allein, sondern in jeglichem Worte Gottes ruht das Leben des Menschen11, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist12. Über den Trank aber äußert sich mit hinlänglicher Deutlichkeit Job: „Wie die Erde, wenn sie auf den Regen wartet, so (warten) auch diese auf meine Worte“13.
Vgl. Cic. l. c. 14, 45; 15, 47. ↩
Vgl. Cic. l. c. 15, 48. ↩
Der Vergleich auch Cic. l. c. 15, 48. ↩
Sprichw. 24, 30. ↩
Sprichw. 23, 1—3. ↩
d. i. auf der Gerichtswage; im gleichen Sinn gebraucht Ambr. die Wendungen ‚zum (Verdammungs-) Gerichte vorangehen‘ (nach 1 Tim. 5, 24), ‚dem Gerichte (auf der Gerichtswage) zuneigen.‘ ↩
Vgl. Sir. 3, 33 f. ↩
Luk. 6, 37 f. ↩
Joh. 4, 34. ↩
Ps. 36, 4 [Hebr. Ps. 37, 4]. ↩
Matth. 4, 4. ↩
Gen. 1, 26. ↩
Job 29, 23. ↩
