XXXIII. Kapitel
Vom Wohlwollen: Dessen Zuwachs in der Kirche (170), sowie durch gleiche Tugendbestrebungen und Charakteranlagen (171). Gerechtigkeit und Starkmut mit dem Wohlwollen verbunden (172).
170. Einen Zuwachs erfährt das Wohlwollen durch die Kirchengemeinschaft, durch den gemeinsamen Glauben, das einigende Band der Taufe, die innige Beziehung auf Grund des Gnadenempfanges, die Teilnahme an den Geheimnissen. Diese Dinge begründen ja sogar den Anspruch auf Namen, die eine Verwandtschaft bezeichnen, auf ‚kindliche‘ Ehrfurcht, ‚väterliche‘ Autorität und Liebe, ‚brüderliche‘ Gesinnung. Gar viel trägt sonach S. 93 die aus der Gnade entspringende Verwandtschaft zur Mehrung des Wohlwollens bei.
171. Eine Förderung bedingen auch die gleichen Tugendbestrebungen. Schafft doch das Wohlwollen auch eine Ähnlichkeit im sittlichen Verhalten. So ahmte der Königssohn Jonathas Davids Sanftmut nach, weil er ihn liebte1. Daher ist auch der Ausspruch: „Mit dem Heiligen wirst du heilig sein“2, wie es scheint, nicht bloß auf den Umgang, sondern auch auf das Wohlwollen zu beziehen. Denn auch die Söhne Noës wohnten zusammen, und doch bestand keine Gleichförmigkeit des sittlichen Verhaltens unter ihnen3. Ebenso wohnten Esau und Jakob im Hause des Vaters, waren aber ungleiches Sinnes4. Denn es herrschte unter ihnen nicht das Wohlwollen, das dem anderen den Vorzug vor sich eingeräumt hätte, sondern vielmehr Eifersucht, die den (Vater-) Segen vorwegnahm5. Da nämlich der eine sehr widerhaarig, der andere sanft war, so konnte bei den ungleichen Charakteranlagen und dem entgegengesetzten Interesse von Wohlwollen nicht die Rede sein. Nimm hinzu, daß der heilige Jakob den entarteten Sprossen des Vaterhauses der Tugend nicht vorziehen konnte.
172. Nichts aber steht in so innigem Bunde als die Gerechtigkeit mit der Billigkeit. Gleichsam Gefährtin und Genossin des Wohlwollens, bewirkt dieselbe, daß wir gerade jene lieben, welche wir für unseresgleichen halten. Aber auch Starkmut trägt das Wohlwollen in sich. Da nämlich die Freundschaft aus der Quelle des Wohlwollens entspringt, trägt sie kein Bedenken, für den Freund schwere Lebensgefahren auf sich zu nehmen. „Und sollte mir Schlimmes durch ihn widerfahren“, spricht sie, „ich nehme es auf mich“6.
