8.
Die wahre Braut Christi aber, die du wegen der steinernen Doppeltafel in schamlosester Weise verhöhnst, sie begreift den Unterschied zwischen Buchstabe und Geist (cf. II Kor. 3,6), in anderer Terminologie als Gesetz und Gnade bezeichnet; und indem sie Gott nicht mehr in der alten Form des Buchstabens dient, sondern in der neuen Form des Geistes, steht sie nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (cf. Rm. 7,6). Denn sie ist nicht streitsüchtig verblendet, sondern lauscht friedfertig den Worten des Apostels, um zu verstehen, was er als Gesetz bezeichnet, unter dem er uns nicht mehr sehen möchte, weil es nämlich der Übertretungen wegen erlassen wurde, bis der Nachkomme käme, dem die Verheissung gilt (Gal. 3,19), und weil es deshalb hinzugekommen ist, damit die Übertretung grösser werde; wo aber die Übertretung grösser wurde, da wurde die Gnade übergross (Rm. 5,20). Doch bezeichnet er damit nicht etwa das Gesetz selber als Sünde, weil es ohne die Gnade nicht lebendig macht – es vergrössert ja im Gegenteil die Schuld, indem noch die Gesetzesübertretung hinzu kommt: Wo es nämlich das Gesetz nicht gibt, da gibt es auch keine Gesetzesübertretung (Rm. 4,15); es schafft also aus sich selbst heraus, wenn es nur Buchstabe ist ohne den Geist, d.h. Gesetz ohne Gnade, nur Schuldige –, er stellt sich aber vor Augen, was weniger Verständige denken könnten, und verdeutlicht mit den folgenden Worten, in welchem Sinn seine Aussage (Rm. 5,20) zu verstehen ist (Rm. 7,7): Was sollen wir nun sagen? ‘Das Gesetz ist Sünde’? Gott bewahre! Jedoch habe ich die Sünde nur durch das Gesetz kennengelernt. Denn ich hätte ja die Begierde nicht gekannt, wenn nicht das Gesetz sagen würde: ‘Du sollst nicht begehren!’ (ib. 11.ff.): Als aber die Sünde durch das Gebot den Anstoss erhielt, hat sie mich in die Irre geführt, und durch das Gebot zu Fall gebracht. Daher ist das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Ist also das, was gut ist, mir zum Tod geworden? Gott bewahre! Aber damit die Sünde als Sünde sichtbar werde, brachte sie mir durch das Gute den Tod. Die Braut Christi, die du verhöhnst, versteht das, weil sie seufzend bittet, weil sie demütig fragt, weil sie friedfertig anklopft; und so sieht sie, dass das Gesetz durch die Worte (II Kor. 3,6): Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig keine Kritik erfährt, so wie auch die Erkenntnis durch die Worte (I Kor. 8,1): Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf keine Kritik erfährt. Denn der Apostel hatte ja selber gesagt (ib.): Wir wissen, dass wir alle Erkenntnis haben, und fügt dann hinzu (ib.): Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf. Weshalb also konnte er selber besitzen, was aufgeblasen macht? Doch nur deshalb, weil die Erkenntnis, wenn sie mit Liebe gepaart ist, nicht nur nicht aufgeblasen, sondern sogar stark macht! So enthält der Begriff Buchstabe in Verbindung mit Geist, beziehungsweise Gesetz in Verbindung mit Gnade, nicht mehr denselben Aussagewert wie wenn er für sich allein steht, wo er tötet (cf. II Kor. 3,6), wenn die Übertretung grösser wird (cf. Rm. 5,20). In diesem Sinn ist ja das Gesetz auch als die Kraft der Sünde bezeichnet worden (cf. I Kor. 15,56), indem es durch das strenge Verbot die schädliche Lust an ihr fördert. Aber auch das sagt nicht, dass das Gesetz schlecht ist, vielmehr hat die Sünde, damit sie als Sünde offenbar werde, meinen Tod durch das Gute verursacht (Rm. 7,13). So ist vieles für bestimmte Wesen schädlich, obwohl es in sich nicht schlecht ist. Denn auch ihr schliesst ja die Fenster, wenn euch die Augen schmerzen, sogar gegen die Sonne, euren Gott. Diese Braut Christi, die dem Gesetz schon gestorben ist (cf. Gal. 2,19) – d.h. der Sünde, welche zunimmt, wenn sie durch das Gesetz verboten ist (cf. Rm. 5,20), weil nämlich das Gesetz ohne die Gnade nur befiehlt, aber nicht hilft – die Braut Christi also, die diesem Gesetz gestorben ist, um jenem andern, der von den Toten auferstanden ist, anzugehören, macht die Unterscheidung, und lässt dabei auch dem Gesetz Recht widerfahren, um nicht gegen dessen Urheber eine Blasphemie zu begehen. Eben das aber tust du ihm an, indem du ihn nicht als den Urheber von etwas Gutem erkennst, obwohl du doch die Worte des Apostels vernimmst (Rm. 7,12): Daher ist das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Da siehst du: er ist der Schöpfer von etwas Gutem, und du hältst ihn für einen der Fürsten der Finsternis. Richte deinen Blick auf die Wahrheit, sie ist augenfällig! Das sind die Worte des Apostels Paulus (ib.): Das Gesetz aber ist heilig, und das Gebot ist heilig und gerecht und gut. Da siehst du, was der Mann geschaffen hat, der jene Doppeltafel, die du töricht verspottest, in der Funktion eines gewaltigen Heilsgeheimnisses vorausgeschickt hat (cf. 12,3 p. 332,17). Denn eben dieses Gesetz, das durch Moses überreicht wurde, ist durch Jesus Christus zur Gnade und zur Wahrheit geworden (cf. Joh. 1,17), als der Geist zum Buchstaben hinzukam, damit sich die Gesetzesgerechtigkeit zu erfüllen begann; denn solange diese nicht erfüllt war, machte das Gesetz die Menschen durch die Gesetzesübertretung zusätzlich schuldig (432,19). Es gibt ja nicht ein Gesetz, das heilig, gerecht und gut ist, und ein zweites, durch das die Sünde den Tod erwirkt, und dem wir sterben müssen (cf. Gal. 2,19), um jenem andern anzugehören, der von den Toten auferstanden ist (433,27), sondern es ist ein und dasselbe Gesetz. Da hast du es, lies, was er weiter sagt (Rm. 7,13): Damit aber die Sünde als Sünde offenbar wurde, erwirkte sie mir durch das Gute den Tod; denn durch das Gebot sollte der Sünder oder die Sünde mehr als deutlich sichtbar werden. Du Taube, du Blinde, hör zu, schau hin, was er sagt: Durch das Gute erwirkte sie mir den Tod. Also ist das Gesetz immer gut, ob es nun denen, die die Gnade nicht haben, Schaden, oder denen, die von der Gnade erfüllt sind, Nutzen bringt. Es ist immer gut, so wie auch die Sonne, wie jede Schöpfung Gottes (cf. I Tim. 4,4), immer gut ist, ob sie nun dem kranken Auge Schmerz bereitet oder das gesunde bezaubert. So entscheidend also für das Auge die Gesundheit ist beim Anblick der Sonne, so entscheidend ist für die Seele die Gnade bei der Erfüllung des Gesetzes. Und sowenig das gesunde Auge für den lieblichen Sonnenschein blind geworden (gestorben) ist, wohl aber für jene stechenden Sonnenstrahlen, von denen getroffen es in den dichteren Schatten getrieben wurde, ebenso wenig wird gesagt (cf. Gal. 2,19; Rm. 6,2), dass die Seele, welche durch die Liebe des Geistes heil geworden ist, der Gerechtigkeit des Gesetzes abgestorben sei, vielmehr jenem Zustand der Schuld und der Gesetzesübertretung, die das Gesetz durch den Buchstaben, dem die Gnade fehlte, verursacht hat. So wird über das Gesetz beides gesagt, einerseits (I Tim. 1,8): Das Gesetz ist gut, wenn man es im Sinne des Gesetzes anwendet, anderseits gleich anschliessend (ib. 9): Sich dessen bewusst, dass das Gesetz nicht für den Gerechten bestimmt ist, da jemand, der an der Gerechtigkeit selber Gefallen findet, den drohenden Buchstaben nicht benötigt.
