6. Zur Erlangung der Keuschheit ist eine besondere Gnade Gottes nothwendig.
Zwar ist in Wirklichkeit zu jedem Fortschritt in der Tugend und zur Bekämpfung aller Laster die siegreiche Gnade des Herrn erforderlich; aber gerade in diesem Punkte ist eine eigene Gabe Gottes und ein besonderes Gnadengeschenk nothwendig. Dieß geht sowohl aus dem, was man bei seiner Rechtfertigung selbst erfahren, als auch aus dem Zeugnisse der Väter ganz deutlich hervor, welche diese Tugend zu besitzen verdienten. Denn wie es gewissermaßen in der Natur des Fleisches liegt, daß Der, welcher einen Leib bewohnt, denselben wieder verläßt, ebenso übernatürlich ist es, daß ein mit einem gebrechlichen Leibe Umkleideter den Stachel des Fleisches nicht fühle. Und gerade deßhalb ist es dem Menschen unmöglich, so zu sagen, auf seinen eigenen Fittigen zu einem so erhabenen, himmlischen Lohne emporzufliegen, wenn ihn nicht die Gnade des Herrn von dem Schmutze der Erde durch die Gabe der Keuschheit emporhebt. Denn durch keine Tugend werden die fleischlichen Menschen den englischen Geistern in ihrem Wandel im eigentlichen Sinne ähnlich, als durch das Verdienst und die Gnade der Reinheit, durch welche sie, noch auf Erden weilend, nach dem Apostel1 S. 139 ihre Wohnung im Himmel haben. Was den Heiligen nach Ablegung dieser fleischlichen Verderbniß für das Jenseits versprochen wird, das besitzen sie schon hier in gebrechlichem Fleische.
Phil. 3, 20. ↩
