II, 12.
S. 23.... [Mit stechendem und furchtbar dräuendem Blick sah er uns an und sagte mit einer superioren Kopfbewegung]: Die Evangelisten sind Erfinder, nicht Erzähler der Geschichte Jesu gewesen; denn sie haben nicht übereinstimmende, sondern ganz verschiedene Berichte über das Leiden verfaßt. Der eine nämlich erzählt, daß, als Jesus gekreuzigt war, jemand ihm einen mit Essig getränkten Schwamm dargereicht habe . . . Ein zweiter aber berichtet anders: »Und als sie an den Ort Golgatha gekommen waren, gaben sie ihm Wein, mit Galle gemischt, zu trinken, und da er gekostet hatte, wollte er nicht trinken«, und bald darauf: »Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloim, Eloim, lema sabachthani, das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das ist Matthäus. Wieder einer sagt: »Ein Gefäß stand da voll Essig; sie banden nun das Gefäß voll Essig an einen Ysop und führten es an seinen Mund. Da Jesus nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht, und er neigte sein Haupt und gab seinen Geist auf«. Das ist Johannes. Wieder einer sagte: »Und er schrie mit starker Stimme und sprach: Vater, in deine Hände werde ich meinen Geist niederlegen.« Das ist Lukas. Aus dieser abgedroschenen und widerspruchsvollen Erzählung kann man den Nachweis führen, daß nicht Einer, sondern eine ganze Anzahl gelitten hat. Denn wenn der eine sagt: »In deine Hände werde ich meinen Geist niederlegen«, der andere: »Es ist vollbracht«, der dritte; »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« der vierte: »Gott, mein Gott, wozu hast du mich beschimpft?« — so ist deutlich, daß diese unstimmige Legendenbildung entweder eine Mehrzahl von Gekreuzigten dartut oder von Einem handelt, der, mit dem Tode übel ringend, den Umstehenden ein klares Bild von seinem Leiden nicht zu gewähren vermochte. Wenn aber die Erzähler, außerstande, den wirklichen Hergang des Todes zu berichten, alles wie Fabeldichter vorgesungen haben, so haben sie auch über die übrigen geschichtlichen Vorgänge nichts Zuverlässiges gesagt.