9. Demjenigen, welcher die Ehe verbietet, steht es nicht zu, den jungfräulichen Stand zu empfehlen.
„Du aber“, sagt man, „gibst du nicht dasselbe Verbot?“ Es sei ferne, daß ich in deinen Wahnsinn verfalle. „Wie kommt es denn aber“, sagt man, „daß du ermahnest, ehelos zu bleiben?“ Weil ich überzeugt bin, daß der jungfräuliche Stand weit ehrwürdiger sei als die Ehe. Darum aber halte ich die Ehe noch nicht für böse, ja im Gegentheil, ich lobe sie sehr; denn sie ist für diejenigen, welche sich ihrer in rechter Weise bedienen wollen, ein Hafen der Enthaltsamkeit, indem sie die Ausschreitung der Natur verhindert. Denn dadurch, daß sie den gesetzlichen Beischlaf als Schutzwehr aufstellt und dabei die Wogen der Begierlichkeit aufnimmt, gewährt sie uns vorzüglich Ruhe uud Schutz. Es gibt aber Manche, die dieses Schutzmittel nicht brauchen, sondern statt dessen die Heftigkeit der Natur durch Fasten, Nachtwachen, durch das Liegen auf bloßer Erde und durch andere ähnliche Bußwerke bezähmen. Diese ermahne ich nicht zu heirathen, verbiete aber die Ehe nicht. Zwischen diesen und jenen aber ist ein sehr großer Unterschied, ja ein so großer, wie zwischen Zwang und freier Wahl. Denn wer einen Rath gibt, stellt es dem Zuhörer frei, ob er das, was er anräth, befolgen wolle; wer aber verbietet, der nimmt ihm diese Befugniß. Zudem verurtheile ich, der ich hiezu rathe, nicht die Sache, S. 168 noch klage ich den an, der sich dazu nicht versteht. Du aber, der du dieses verdammst und für sündhaft erklärst, und dir die Rolle eines Gesetz- und nicht eines Rathgebers anmaßest, hassest jene mit Recht, die nicht gehorchen; ich aber nicht, sondern ich bewundere diejenigen, welche sich diesem Kampf unterziehen, klage aber auch jene nicht an, die an diesem Kampf nicht Theil nehmen. Denn die Klage ist erst dann berechtigt, wenn Jemand etwas verübt, was zweifellos bös ist. Wer aber, nachdem er eine niedere Stufe der Tugend erklommen, die höhere nicht erreicht, der entbehrt zwar, dem Stärkern gegenüber, des Lobes und der Bewunderung, verdient aber darum nicht getadelt zu werden. Wie verbiete ich also die Ehe, der ich die Ehegatten nicht anklage? Hurerei und Ehebruch verbiete ich, niemals aber die Ehe; und diejenigen, die sich erfrechen, jenes zu treiben, züchtige ich und schließe sie aus von der Gemeinschaft der Kirche; diejenigen aber, die heirathen und dabei das rechte Maaß halten, lobe ich sogar unausgesetzt. Denn so erwächst ein doppelter Vortheil, einmal, weil wir das Werk Gottes nicht verdammen, dann aber, weil dadurch der jungfräuliche Stand nicht nur seine Würde bewahrt, sondern sogar weit mehr verherrlichet wird.
