70. Die Nüchternheit ist sowohl nützlicher als auch angenehmer, denn die Schwelgerei.
Von dieser Art ist aber nicht die Nüchternheit: sie ist vielmehr ferne von all diesen Leiden und bewirkt Gesundheit und Wohlbefinden. Wenn aber Jemand auch Vergnügen sucht, so wird er mehr in ihr finden als in der Schwelgerei; zuerst deßhalb, weil der Mensch gesund bleibt und von keinem jener Uebel belästiget wird, deren jedes einzelne für sich schon hinreicht, das Vergnügen zu vernichten und gleichsam von Grund aus zu zerstören; zweitens aber auch wegen der Speisen selbst. Wie so? Weil der Appetit das Vergnügen bewirkt; den Appetit aber erzeugt nicht der Ueberfluß und die Sättigung, sondern die Dürftigkeit und die Armuth. Diese findet sich aber nicht bei jenen Gastmählern der Reichen, sondern immerfort bei denen der Armen, wo sie mehr als jeder Tafelbereiter und Koch den vorgesetzten Speisen vielen Honig beimischt. Denn wenn die Reichen, auch ohne hungerig zu sein, Speise zu sich nehmen und trinken, ohne durstig zu sein, und sich zur Ruhe begeben, bevor sie eine heftige Schläfrigkeit befällt; so genießen diese sie erst, nachdem sie vorher ein Bedürfniß darnach fühlen; und gerade das ist es, was das Vergnügen vermehrt. Denn warum, sprich, bestätigt auch Salomo den süßen Schlaf des Arbeiters mit folgenden Worten: „Süß ist der Schlaf für den Arbeiter, ob er viel S. 261 oder wenig gegessen hat“?1 Vielleicht wegen des weichen Lagers? Aber die Meisten schlafen auf der Erde oder auf einem Strohsack. Oder wegen der Freiheit? Aber sie haben keinen freien Augenblick. Oder wegen der Muße? Aber sie werden beständig durch Arbeiten und Mühseligkeiten in Anspruch genommen. Was ist es also, was den Schlaf so angenehm macht, wenn nicht der Umstand, daß sie ihn erst genießen, nachdem sich das Bedürfniß darnach eingestellt hat? Die Reichen dagegen sind, wenn sie die Nacht nicht in betrunkenem Zustande antrifft, gezwungen, die Nächte zu durchwachen und, ob auch auf weichlichen Betten liegend, sich herum zu wälzen und Langeweile zu haben.
Eccli 5, 11. ↩
