32. Diejenigen, die zerstreut beten, versöhnen Gott nicht nur nicht, sondern beleidigen ihn noch.
Wenn diejenigen, welche vor Könige, doch was sage ich vor Könige? sogar vor die niedrigsten Behörden hintreten; wenn Sklaven ihre Herren anreden, sei es, daß sie dieß thun, nachdem sie eine Beleidigung von Andern erfahren, sei es, daß sie selber eine Wohlthat erflehen, sei es, daß sie den gegen sie aufgeregten Zorn besänftigen wollen: so richten sie Augen und Geist ungetheilt auf dieselben S. 199 und halten so ihre Ansprache. Sind sie aber auch nur ein wenig zaghaft, so werden sie nicht nur nicht erreichen, um was sie bitten, sondern abziehen, nachdem sie dazu noch Strafe empfangen. Wenn nun diejenigen, welche die Aufregung von Menschen besänftigen wollen, sich so sehr bemühen, wie wird es uns Armen ergehen, die wir so nachlässig zu Gott, dem Alles Beherrschenden hintreten, besonders, da wir seinen Zorn weit mehr auf uns geladen haben? Denn es beleidigt weder ein Sklave seinen Herrn, noch ein Unterthan seinen König so schwer, wie wir Gott jeden Tag. Und das deutete Christus1 an, als er die Sünden gegen Andere hundert Denare, die gegen Gott aber tausend Talente nannte. Wenn wir daher, um seinen so großen Zorn zu besänftigen und ihn, den wir täglich angreifen, zu versölmen, zu ihm beten, so hält uns Paulus mit Recht von jener Wollust zurück, als ob er zu uns spräche: „Es handelt sich, Geliebte, um unsere Seele; das Höchste steht in Gefahr; man muß zittern, beben und fürchten. Wir treten vor einen furchtbaren Herrn, der von uns oftmals beleidigt wurde, der Wichtiges und über wichtige Dinge gegen uns auszusetzen hat. Da ist keine Zeit für Umarmungen, nicht für Vergnügen, sondern für Thränen, bittere Seufzer, Niederfallen, ein sorgfältiges Bekenntniß, flehentliches Bitten und häufiges Beten. Denn es vermag nur der jenen Zorn zu besänftigen, der mit Liebe und solchem Eifer sich demüthig nähert: nicht als ob unser Herr hart und grausam wäre, denn er ist sehr milde und menschenfreundlich; aber die Größe unserer Frevel gestattet dem Milden, Gütigen und Barmherzigen nicht, uns leicht zu verzeihen. Deßhalb sagt Paulus: „Um euch dem Fasten und Gebete zu widmen.“ Was ist also bitterer, als diese Knechtschaft? Ich wünsche in der Tugend zu wachsen, gen Himmel zu fliegen und beständig dem Fasten und Gebete obliegend den Schmutz der Seele abzuwaschen; wenn daher sie mit dieser Ansicht nicht über- S. 200 einstimmt, so bin ich gezwungen, ihrer Geilheit zu dienen. Darum mahnte er Anfangs: „Es ist gut für den Menschen, kein Weib zu berühren;2 deßhalb sagten auch die Jünger zum Herrn: „Wenn sich die Sache des Mannes mit dem Weibe also verhält, so ist nicht gut heirathen;“ denn sie dachten, daß man nach einer der beiden Seiten ganz nothwendig geschädiget werde, und von dieser Folgerung in die Enge getrieben, stießen sie jenen Ausruf hervor.
