29. Cap. Wie die successive Erschaffung und Einrichtung der Erde zu verstehen sei.
Denn Gott hatte alle seine Werke nach einer geordneten Methode vollendet, zuerst in den unfertigen Elementen gleichsam die Umrisse der Welt abgesteckt, und sodann mit deren Ausschmückung begonnen. Er hat das Licht nicht sofort mit dem Glanze der Sonne erfüllt, die Finsternis nicht sofort durch das erfreuende Mondlicht gemildert, den Himmel nicht sofort mit Sternen und Sternbildern gezeichnet, das Meer nicht sofort mit Ungetümen bevölkert, die Erde nicht sofort mit ihrer mannigfachen Fruchtbarkeit ausgerüstet, sondern ihr zuerst das Sein verliehen, sodann erst das „nicht umsonst sein” ihr zuerteilt. Denn so spricht Isaias: „Nicht umsonst hat er sie geschaffen, sondern damit sie bewohnt werde.”1 Nachdem sie also geschaffen war, sollte sie auch vollkommen werden; vorläufig war sie unsichtbar und roh; roh eben darum, weil sie unsichtbar war, nämlich einerseits nicht vollkommen genug für den Anblick und andererseits im übrigen noch nicht ausgebildet. Unsichtbar aber war sie, weil sie noch mit den Gewässern, gleichsam als einer schützenden Decke von Geburtsflüssigkeiten, umgeben war in der Weise, wie auch unser, ihr verwandter Leib ans Licht der Welt tritt. Auch David singt: „Des Herrn ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und alle, die ihn bewohnen; er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Flüssen ihn bereitet.”2
S. 87 Nachdem nämlich die Gewässer abgesondert und in die Höhlungen und Buchten verbannt waren, trat das feste Land mehr hervor, das bis dahin von den Wassern bedeckt wurde. Von der Zeit an wird es sichtbar auf das Wort Gottes: „Es soll sich vereinigen das Wasser in einer Vereinigung und das Trockene zum Vorschein kommen.”3 Es soll zum Vorschein kommen, sagt er, nicht aber: Es werde; denn es war schon geworden; aber bis dahin unsichtbar, harrte es noch der Stunde, wo es zum Vorschein kommen würde als trockenes Land, was es erst werden sollte nach der Scheidung des Flüssigen; Erde jedoch war es schon. Und Gott nannte das Trockene Erde, nicht Materie. So erlangte sie denn später auch ihre Vollkommenheit und hörte auf, wüst zu sein, als Gott sprach: „Es bringe die Erde das Kraut des Feldes hervor, welches Samen trägt nach seiner Art und Gleichnis, und Fruchtbäume, welche Früchte tragen, worin ihr Same ist, nach ihrer Art.” Ferner: „Es bringe die Erde hervor lebende Wesen nach ihrer Art, Vierfüsser, Gewürm und die wilden Tiere des Feldes nach ihrer Art.”
So hat die göttliche Schrift ihre Ordnung vollständig zu Ende geführt. Da sie die Erde vorher als unsichtbar und wüst hingestellt hatte, legte sie ihr nachher Sichtbarkeit und Vollkommenheit bei. Die unsichtbare und wüste Materie war aber keine andere. Die Materie wird also nachher sichtbar und vollkommen. Ich verlange daher die Materie zu sehen, da sie sichtbar geworden ist. Ich verlange sie auch als vollkommen zu erkennen, um von ihr Kräuter und Fruchtbäume zu erhalten und ihre Tiere zu meinem Nutzen und Dienst zu gebrauchen. Materie ist nirgendwo, Erde aber ist da, d. h. vor mir. Diese sehe ich, sie geniesse ich, nachdem sie aufgehört hat, unsichtbar und roh zu sein. Von ihr sagt Isaias ganz verständlich: „So spricht der Herr, der den Himmel gemacht hat, jener Gott, der die Erde vorführte und sie geschaffen hat.”4 Er hat sicher keine andere Erde vorgeführt als die, welche er gemacht hatte. Wie hat er sie vorgeführt? Offenbar durch sein Wort: „Es möge das Trockene zum Vorschein kommen.” Weshalb heisst er sie zum Vorschein kommen? Nur, weil sie vorher nicht erschien und um sie auch auf diese Weise nicht vergebens erschaffen zu haben, da er sie sichtbar und bewohnbar erschaffen hatte. So wird es von allen Seiten bestätigt, dass diese Erde, die wir bewohnen, von Gott geschaffen und vorgeführt worden sei, und dass die wüste und unsichtbare keine andere war als die, welche geschaffen und vorgeführt wurde. Somit bezieht sich der Ausspruch: „Die Erde aber war wüst und unsichtbar” auf die Erde, welche Gott mit dem Himmel abgesondert hatte.
