5.
Doch, was mache ich? Was will ich? Was fasse ich zuerst an? Worüber schweige ich? Sind mir denn alle Gesetze der Rhetorik entfallen? Kann ich denn vor lauter Trauer, Tränen und Jammern keine Ordnung mehr in meine Worte bringen? Was ist denn aus der mir von Jugend auf so vertrauten Beschäftigung mit der Wissenschaft geworden? Habe ich den immer und immer wieder S. b35 zitierten Ausspruch des Anaxagoras 1 und des Telamon: 2 „Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt habe“, 3 ganz vergessen? Ich habe mich mit Krantor beschäftigt, bei dem selbst Cicero Trost in seinem Schmerze sucht. 4 Ich habe die Werke eines Plato, 5 Diogenes, 6 Kleitomachus, 7 Karneades 8 und Poseidonius 9 durchgelesen, aus denen man Linderung im Leide schöpfen sollte. Sie haben zu den verschiedensten Zeiten in Büchern und Briefen mancher Leute Leid zu lindern versucht, so daß ich meinen vertrockneten Geist aus ihren Quellen wieder auffrischen könnte. Unter den vielen, von denen S. b36 sie berichten, seien besonders Perikles und Xenophon, des Sokrates Schüler, erwähnt. Der eine sprach mit einem Kranze geschmückt in der Volksversammlung, obwohl er eben erst zwei Söhne verloren hatte; 10 der andere soll im Begriffe zu opfern den Kranz abgelegt haben, als er den Soldatentod seines Sohnes erfuhr, um ihn gleich wieder aufzusetzen, als er hörte, daß dieser als tapferer Kämpfer gefallen war. 11 Was soll ich die römischen Führer aufzählen, deren Heldentaten Sternen gleich in der lateinischen Geschichte aufleuchten? Als man dem Pulvillus, wie er das Kapitol einweihte, den Tod seines Sohnes meldete, ordnete er sofort an, die Bestattung ohne ihn vorzunehmen. 12 Lucius Paullus mußte innerhalb einer Woche zwei Söhne begraben und zog trotzdem in der Zwischenzeit als Triumphator in die Stadt ein. 13 Nur flüchtig erwähne ich einen Maximus, Cato, Gallus, Piso, Brutus, Scävola, Metellus, Scaurus, Marius, Crassus, Marcellus und Aufidius, die im Leid nicht mindere Helden als im Kriege waren. Wie sie ihre Kinder verloren, hat Cicero in seinem Trostbuch geschildert. 14 Doch ich möchte mich nicht dem Vorwurfe aussetzen, aus dem Heidentum Beispiele anzuführen, während ich die christlichen Vorbilder übergehe. Immerhin darf ich zu unserer Beschämung kurz auf diese Beispiele hinweisen, falls unser Glaube die heldenmütige Auffassung nicht wachrufen sollte, deren der Unglaube fähig war.
Philosoph und Mathematiker (500—428), Freund des Perikles. ↩
Sohn des Aiakos, Bruder des Peleus und Freund des Herakles. ↩
Cicero, Tusc. III 13, 28; 14, 30; 24, 58; Valerius Max. V 10 ext. 3. ↩
Krantor aus Soloi in Kilikien (4. Jahrhundert v. Chr.) schrieb περὶ πένθους. Diese Schrift benutzte Cicero ausführlich in dem aus Anlaß des Todes seiner Tochter verfaßten Buche „De consolatione“ (vgl. Tusc. I 48, 115). ↩
Hieronymus denkt wohl an die Platonischen Schriften, welche die Unsterblichkeit der Seele behandeln, an der sich auch Cicero tröstet (vgl. Cato maior 23, 82 ff.). Es könnte aber auch die fälschlich Plato zugewiesene Schrift Ἀξίοχος gemeint sein, die vom Tode handelt. Die hier angeführten Schriftsteller hat Hieronymus nicht selbst gelesen, sondern Cicero entnommen. Ein Teil von ihnen samt den Beispielen findet sich in den Tusculanen; auch „De consolatione“ mag als Quelle gedient haben. ↩
Diogenes, der Babylonier, aus Seleukia, ein Stoiker, Schüler des Chrysippos und Lehrer des Karneades. Seine Schriften sind verlorengegangen ↩
Kleitomachus aus Karthago (187—110 v. Chr.) wurde 129 Leiter der Platonischen Akademie. Nach der Zerstörung seiner Vaterstadt verfaßte er eine Trostschrift für seine Landsleute (vgl. Cic., Tusc. III 22, 54). ↩
Karneades (224—129 v. Chr.), der Lehrer des Kleitomachus, hat keine Schriften hinterlassen. Seine Lehre haben seine Schüler, vor allem Kleitomachus, der Nachwelt über liefert. ↩
Poseidonius aus Apameia (135—45 v. Chr.), stoischer Philosoph und Lehrer Ciceros, der ihn fleißig benutzte. ↩
Valerius Max. V 10 ext. 1. ↩
Diogenes Laert. II 54; Valerius Max. V 10 ext. 2. ↩
Vgl. Valerius Max. V 10, 1. ↩
Lucius Aemilius Paullus Macedonicus († 160 v. Chr.). Vgl. Plutarch, Aemilius Paullus 10; Valerius Max. V 10, 2. ↩
Ciceros „De consolatione“ ist bis auf unwesentliche Bruchstücke verlorengegangen. Vgl. hierzu Cicero, Tusc. III 28, 70. ↩
