16.
Man könnte einwenden: „Das ist nun einmal Herrscherschicksal. Der Blitz schlägt am liebsten in die höchsten Berge.“ 1 Sei es; dann will ich zu solchen Würdenträgern übergehen, die als Privatleute lebten. Dabei will ich mich innerhalb des Rahmens der beiden letzten Jahre halten. Es dürfte genügen, über das verschiedene Ende dreier ehemaliger Konsuln zu berichten. Abundantius lebt zu Pityunz als Verbannter im größten Elend. 2 Das Haupt des Rufinus 3 wurde zu Konstantinopel auf einer Stange umhergetragen, und seine abgehauene Rechte wanderte zur Verhöhnung seines unersättlichen Geizes Almosen bettelnd von Tür zu Tür. Timasius, 4 von der höchsten Stufe der Ehre plötzlich herabgestürzt, ist glücklich, daß er ruhmlos in der Oasis leben kann. Mir kommt es nicht darauf an, das Unglück dieser armen Menschen zu schildern, ich will nur auf die Unsicherheit des menschlichen Schicksals hinweisen. Der Geist sträubt sich, all die traurigen Ereignisse unserer Zeit zu verfolgen. S. b52 Es sind jetzt zwanzig und mehr Jahre, daß zwischen Konstantinopel und den Julischen Alpen täglich Römerblut fließt; Goten und Sarmaten, Quaden und Alanen, Hunnen, Vandalen und Markomannen durchziehen Skythien, Thrakien, Makedonien, Thessalien, Dardanien, 5 Dakien, Epirus, Dalmatien und ganz Pannonien und verwüsten und verheeren diese Gebiete. Wie viele ehrwürdige Frauen und Gott geweihte Jungfrauen von vornehmer Abstammung und aus guter Familie waren der Grausamkeit dieser wilden Tiere preisgegeben? Bischöfe wurden gefangengesetzt, Priester und Kleriker in den verschiedensten Ämtern ermordet. Kirchen wurden zerstört, Altäre verwandelte man in Pferdekrippen, die Gebeine der Märtyrer grub man aus. Überall Trauer, überall Leid, alles rief des Todes Bild wach. 6 Die römische Welt stürzt zusammen, aber unser stolzer Nacken will sich nicht beugen. Welcher Druck lastet heute nicht auf den Korinthern, Athenern, Spartanern, Arkadiern, überhaupt auf ganz Griechenland, das von Barbaren beherrscht wird? Und damit habe ich nur wenige Städte genannt, die einst der Sitz mächtiger Reiche waren. Von all diesem Unheil schien sich der Orient freizuhalten, der höchstens durch die Kunde von den Schrecknissen in Erregung geriet. Da wurden plötzlich im vorigen Jahre aus den entlegenen Felsgrüften des Kaukasus nicht Arabiens, wohl aber des Nordens Wölfe 7 gegen uns losgelassen, die in kurzer Frist gewaltige Gebiete verheerend durchzogen. Wie viele Klöster besetzten sie nicht? Wie viele Flüsse wurden nicht von Menschenblut gerötet? Antiochia wurde belagert samt den übrigen Städten, an denen der Halys, Kydnus, Orontes und Euphrat vorbeifließen. Ganze Scharen von Gefangenen S. b53 schleppte man fort. Arabien, Phönizien, Palästina und Ägypten vergingen vor Furcht.
„Hätt’ ich der Zungen und Sprachen auch tausend und eherne Stimme,
Nie vermocht ich zu nennen die Namen der rächenden Strafen. 8 Aber ich habe mir ja nicht vorgenommen, Geschichte zu schreiben, ich will nur ganz kurz unser trauriges Schicksal beklagen. Freilich möchten selbst einem Thukydides und einem Sallust die Worte fehlen, um dies wahrheitsgetreu tun zu können.
Horaz, Carm. II 10, 11 f. ↩
Der Eunuch Eutropius ward von Abundantius als Sklave in den kaiserlichen Palast eingeführt, wo er zu den höchsten Ehrenstellen emporstieg. Zum Lohne verbannte er seinen Wohltäter ans Schwarze Meer. ↩
Rufinus aus Elusa (392 Konsul) war ein Günstling des Theodosius. Als dieser gegen Eugen zu Felde zog, erhob er sich gegen des Kaisers Sohn Arkadius. Diese Treulosigkeit und der Mißbrauch seiner Macht führten zu seiner Ermordung. ↩
Feldherr Theodosius d.Gr., 389 Konsul, später von Eutropius (s. Anm. 3) gestürzt und nach Ägypten verbannt, wo er starb. ↩
Landschaft in Obermösien (Serbien). ↩
Vergil, Aen. II 368 f. ↩
Vgl. Hab. 1, 8 (nach LXX). Gemeint sind die von Rufin (vgl. S. 51 Anm. 4) zum Einfall ins Römische Reich 395 herbeigerufenen Hunnen ↩
Vergil, Aen. VI 625 ff. ↩
