9.
Diese Einzelheiten führe ich nicht etwa an, weil ich vorhabe, die Evangelisten als Fälscher zu brandmarken, wie es die Heiden tun, ein Celsus, ein Porphyrius, ein Julian. 1 Aber meinen Tadlern möchte ich ihre Unwissenheit zu Gemüte führen. Ich möchte sie um Nachsicht bitten, damit sie mir in einem unbedeutenden Briefe nicht nachhalten, was sie in den heiligen Schriften, ob sie es wollen oder nicht, den Aposteln zubilligen müssen. Markus, der Schüler Petri, beginnt sein Evangelium mit folgenden Worten: „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, wie geschrieben steht beim Propheten Isaias: Siehe, ich sende meinen Boten vor Deinem Angesichte einher, der Deinen Weg bereiten wird. Die Stimme des Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, machet gerade seine Pfade!“ 2 Dieses Zeugnis setzt sich aus zwei Propheten zusammen, aus Malachias und Isaias. Der erste Teil: „Siehe, ich sende meinen Boten vor Deinem Angesichte einher, der Deinen Weg bereiten wird“ 3 steht am Schlusse bei Malachias. Das zweite Stück jedoch, das mit den Worten: „Die Stimme des Rufenden in der Wüste usw.“ S. b280 anhebt, findet sich bei Isaias. 4 Wie kommt nun Markus dazu, gleich am Anfange seiner Schrift zu sagen: „Wie geschrieben steht beim Propheten Isaias: Siehe ich sende meinen Engel?“ 5 Denn wie bereits bemerkt, finden sich diese Worte nicht bei Isaias, sondern bei Malachias, dem letzten der zwölf Propheten. Wenn sie bei ihrer anmaßenden Unwissenheit diese kleine Frage klären, dann will ich wegen meines Irrtums Abbitte leisten. Derselbe Markus führt den Erlöser ein, wie er zu den Pharisäern spricht: „Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er Not litt und samt seinen Begleitern hungerte? Wie er unter dem Hohenpriester Abiathar in das Haus des Herrn hineinging und die Schaubrote verzehrte, die niemand außer den Priestern essen durfte?“ 6 Schlagen wir einmal Samuel oder, wie der Titel gewöhnlich lautet, die Bücher der Könige nach! Dort werden wir finden, daß der Hohepriester nicht Abiathar, sondern Abimelech hieß, der nachher von Doeg zusammen mit den übrigen Priestern auf Befehl Sauls umgebracht wurde. 7 Wenden wir uns nun dem Apostel Paulus zu! Er schreibt an die Korinther: „Denn wenn sie ihn erkannt hätten, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit niemals ans Kreuz geschlagen. Aber es steht geschrieben: Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört, in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott jenen bereitet, die ihn lieben.“ 8 Gewisse Leute forschen nach dieser Stelle in den albernen Faseleien der Apokryphen und behaupten, sie sei der Apokalypse des Elias entnommen. 9 In Wirklichkeit stammt sie aus dem Propheten Isaias, wo der hebräische Text liest: „Vom Beginn der Zeiten an haben die Menschen nicht S. b281 gehört und nicht mit den Ohren vernommen, auch kein Auge, Du ausgenommen, o Gott, hat gesehen, was Du denen bereitest, die Dich erwarten.“ 10 Diese Worte hat die Septuaginta wesentlich anders übersetzt. Sie schreibt: „Vom Anbeginn der Zeit haben wir Gott nicht gehört, und unsere Augen haben ihn nicht gesehen Du ausgenommen. Deine Werke sind wahr, und Du wirst Barmherzigkeit üben an denen, die Dich erwarten.“ 11 Wir wissen also jetzt, wo der Apostel diese Stelle entlehnt hat; aber er hat nicht Wort für Wort übersetzt, sondern mit einer Umschreibung hat er den gleichen Sinn in anderen Worten niedergelegt. Im Römerbriefe bedient sich der gleiche heilige Apostel eines Zeugnisses aus dem Propheten Isaias. „Siehe“, sagte er, „ich stelle auf in Sion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses.“ 12 Seine Worte weichen von der alten Übersetzung ab, sind aber gleichlautend mit der hebräischen Wahrheit. In der Septuaginta ist nämlich der Sinn genau entgegengesetzt; denn sie sagt: „Nicht werdet ihr begegnen einem Stein des Anstoßes und einem Felsen des Verderbens.“ 13 Der heilige Petrus, der mit den Hebräern und mit Paulus übereinstimmt, schreibt: „Den Ungläubigen aber ist er ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses.“ 14 Aus allen diesen Beispielen ergibt sich einwandfrei, daß es den Aposteln und Evangelisten bei der Übersetzung der alten Schriften auf den Sinn ankam und nicht auf die Worte. Sie machten sich nicht viel Sorge um die Anordnung und um den Wortlaut, sofern nur das Verständnis nicht darunter litt.
Zu Celsus und Porphyrius vgl. S. 169 Anm. 1; BKV II. Reihe XVI 264 Anm. 3. Kaiser Julian verfaßte im Jahre 363 seine drei Bücher „Gegen die Galiläer“, gegen die Cyrill von Alexandrien eine umfassende Widerlegung schrieb. (Vgl. B. III 13 f. IV 58 ff.). ↩
Mark. 1, 1 ff. ↩
Mal. 3, 1. ↩
Is. 40, 3. ↩
Mark. 1, 2. ↩
Ebd. 2, 25 f. ↩
1 Kön. 21, 1 ff.; 22, 18. ↩
1 Kor. 2, 8 f. ↩
Zu ihnen gehört Origenes (vgl. Klostermann, Origenes-Matthäuserklärung II 117. Leipzig. 1933, 250). Da die Apokalypse nicht erhalten blieb, ist eine Kontrolle nicht möglich. Vgl. auch BKV II. Reihe VII 170 Anm. 8. ↩
Is. 64, 4 (Hebr.). ↩
Ebd. (LXX). ↩
Röm. 9, 33. ↩
Is. 8, 14 (LXX). ↩
1 Petr. 2, 7 f. ↩
