Erster Artikel. Das Gebet ist keine Thätigkeit eines begehrenden Vermögens.
a) Das Gebet muß dem begehrenden Vermögen angehören. Denn: I. Ps. 9. heißt es: „Das Verlangen des armen hat der Herr erhört.“ Das Verlangen aber gehört dem Begehren an. II. Dionysius sagt (3. de div. nom. 1.): „Vor Allem müssen wir vom Gebete anfangen, uns nämlich vereinend mit Gott.“ Die Einigung aber gehört der Liebe an. III. Der Vernunft kommt es zu 1. einfach aufzufassen; — 2. zu trennen und zu verbinden; — 3. vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen. Keine dieser Thätigkeiten aber ist Gebet. Auf der anderen Seite heißt es bei Isidor (10 Etymol. 0.): „Bitten heißt ebensoviel als Sprechen.“ Sprechen aber gehört zur Vernunft.
b) Ich antworte, nach Cassiodor (zu Ps. 38.) sei oratio ebensoviel wie oris oratio; also Gebet sei Gebot, was ein Akt der Vernunft ist. Die beschauliche Vernunft nun faßt nur die Wesenheiten der Dinge auf; die praktisch thätige Vernunft aber verursacht zugleich. Nun verursacht etwas entweder so, daß es Notwendigkeit auflegt; wenn nämlich die Wirkung ganz der Ursache unterworfen ist; — oder unvollkommen, so nämlich, daß es nur vorbereitet. Ähnlich nun ist die Vernunft Ursache entweder so, daß sie den niederen Vermögen und den Gliedern im eigentlichen Sinne befiehlt, oder so, daß sie anleitet, dazu anführt und vorbereitet; und danach kann sie etwas verlangen selbst von denen, die ihrer Gewalt nicht unterstehen, von Gleichstehenden oder Höheren. Beides aber, das eigentliche Gebieten und das Beten, schließt eine Hinordnung in sich ein, insoweit der Mensch verfügt oder vorbereitet, daß das Eine vermittelst des Anderen zu thun sei. Also gehört dies Alles der Vernunft an, der es eigen ist, zu ordnen. In der letzten Weise nun gilt es hier, vom Gebete zu sprechen, nach dem, was Augustin sagt (de verb. Dom. serm. 5.): „Das Gebet ist ein gewisses Verlangen;“ oder Damascenus (3. de orth. fide 24.): „Das Gebet ist das Flehen von Gott um das, was sich schickt.“ Und sonach ist Beten eine Thätigkeit der Vernunft.
c) I. Das Verlangen ist die Ursache für das Beten, da die Bitte gewissermaßen das Verlangen erklärt. Oder es wird dies deshalb gesagt, weil der Herr, selbst wenn etwas nur erst im Verlangen der armen ist, bereits erhört, bevor sie ein wirkliches Gebet formen; wie Isaias (65, 24.) sagt: „Und ehe sie zu mir schreien, werde ich sie erhören.“ II. Der Wille setzt die Vernunft zu ihrem Zwecke hin in Bewegung. Also kann kraft des Anstoßes, der vom Willen kommt, der Vernunftakt zum Zwecke der heiligen Liebe hin sich richten, der da Gott ist. Das Gebet aber strebt nach Gott hin 1. von seiten dessen, was erbeten wird; denn das müssen wir vorzugsweise in unserem Gebete einschließen, daß wir mit Gott vereinigt werden, nach Ps. 26.: „Das Eine habe ich vom Herrn erbeten, das will ich erhalten, daß ich im Hause des Herrn wohne alle Tage meines Lebens;“ — 2. von seiten desjenigen, der erbittet, der herantreten muß dem, von welchem er etwas erbittet, dem Orte nach, wenn dies ein Mensch ist; dem Geiste nach, wenn dies Gott ist. Danach sagt Dionysius: „Wem wir im Gebete Gott anrufen, sind wir im offenbargemachten Geiste Got gegenwärtig.“ Deshalb sagt Damascenus: „Das Gebet ist ein Aufsteigen des Geistes zu Gott.“ III. Jene drei Akte gehören zur beschaulichen, spekulativen Vernunft; hier handelt es sich um die praktisch thätige Vernunft, die durch Befehl oder Gebet etwas verurfacht.
