Sechzehnter Artikel. Die Sünder können ebenfalls im Gebete von Gott etwas erlangen.
a) Dem ist nicht so. Denn: I. Joh. 9. heißt es: „Wir wissen, daß Gott die Sünder nicht hört;“ und Prov. 28.: „Wer sein Ohr fernhält, daß er nicht das Gesetz höre; dessen Gebet wird verabscheuenswert sein.“ II. Die Gerechten erlangen von Gott das, was sie verdienen. Sünder aber verdienen nichts; ihr Gebet ist also nicht frommgläubig. III. Chrysostomus (14. in Matth. op. imp.): „Der Vater hört nicht auf das Gebet, was der Sohn nicht diktiert hat.“ Christus aber lehrt: „Vergieb uns unsere Schulden wie wir vergeben unseren Schuldigern;“ was die Sünder nicht thun, die da vielmehr lügen, wenn sie so beten. Auf der anderen Seite sagt Augustin (tract. 44. in Joan.): „Wenn Gott die Sünder nicht erhörte, so hätte der Zöllner vergebens gesagt: Herr, sei mir Sünder gnädig;“ und Chrysostomus: „Jeder, welcher bittet, empfängt, ob Gerechter oder Sünder.“
b) Ich antworte, im Sünder sei die Natur, welche von Gott geliebt werde; und die Sünde, die Gott hasse. Bittet also der Sünder als Sünder um etwas, nämlich gemäß dem sündhaften Verlangen; so wird er darin nicht von Gott erhört und zwar aus Barmherzigkeit. Wenn er jedoch darin erhört wird, so geschieht es zu gerechter Strafe, weil nämlich Gott den Sünder dann weiter in Sünden stürzen läßt. Denn Gott „bewilligt Manches im Zorne, was er verweigert jenem, dem Er barmherzig sein will;“ sagt Augustin. (Tract 73. in Joan.) Das Gebet aber, welches von der an sich guten Natur im Sünder ausgeht, erhört Gott; — nicht zwar aus Gerechtigkeit, weil der Sünder die Erhörung nicht verdient; sondern aus reinster Barmherzigkeit, vorausgesetzt, daß der Sünder für sich betet, fromm, beharrlich und um das zum Heile Notwendige.
c) I. Jenes Wort sagt der noch nicht vollkommen erleuchtete Blinde. Seine Wahrheit kann jedoch aufrecht gehalten werden, wenn man es vom Sünder als Sünder versteht. II. Fromm, d. h. kraft des Zustandes der entsprechenden Tugend kann der Sünder nicht beten; er kann aber fromm beten mit Rücksicht auf den Gegenstand, um den er bittet. So kann jemand, der nicht den Zustand der Gerechtigkeit in sich hat, etwas Gerechtes manchmal wollen. Und obgleich ein solches Gebet nicht verdienstlich ist, so kann es doch wirksam sein für die Erreichung dessen, worum man bittet. Denn das Verdienst hat zur Grundlage die Gerechtigkeit; das Erreichen aber von etwas Gewünschten kommt von reiner Gnade. III. Das Vaterunser wird gesagt in der Person und im Namen der ganzen Kirche. Wenn jemand sonach dem Nächsten nicht vergeben will und trotzdem das Vaterunser betet, so lügt er nicht; mag auch das, was er sagt, nicht wahr sein mit Bezug auf seine Person. Denn es bleibt wahr mit Rücksicht auf die ganze Kirche, außerhalb deren sich der.Sünder befindet, und deshalb entbehrt der Sünder für seine Person der Frucht des Gebetes. Manchmal aber sind auch die Sünder bereit, ihren Beleidigern zu vergeben, nach Ekkli. 26.: „Vergieb dem Mitmenschen, der dir geschadet hat; und dann werden dir deine Sünden vergeben werden.“
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