14. Das Wort Gottes hat die menschliche Natur wahrhaft und ohne Vermischung angenommen.
[20] Wenn wir aber öfters von „Person" sprechen und sagen, Gott sei der Person nach Mensch geworden, so ist sehr zu befürchten, es möchte den Anschein haben, als wollten wir sagen, Gottes Wort habe nur durch Nachahmung der Tätigkeit das Unsrige angenommen und alles, was zur menschlichen Handlungsweise gehört, nur zum Scheine, nicht als wahrer Mensch getan1 ; wie es im Theater zu geschehen pflegt, wo einer kurz nacheinander mehrere Personen darstellt, ohne selbst irgendeine derselben zu sein. Denn so oft die Nachahmung einer fremden Tätigkeit übernommen wird, werden die Leistungen und Werke anderer so ausgeführt, daß doch die Darsteller und die Dargestellten nicht dieselben sind. Wenn nämlich, um von den weltlichen Spielen ein Beispiel zu nehmen, ein tragischer Schauspieler einen Priester oder einen König2 darstellt, so ist er selbst kein Priester oder König; denn S. 189wenn die Vorstellung zu Ende ist, hört auch die übernommene Rolle auf.
Ferne sei von uns solch gottloser und frevelhafter Spott! Den Manichäern3 wollen wir diesen Unsinn überlassen, die als Prediger eines Wahngebildes behaupten, daß Gott Gottes Sohn nicht dem Wesen nach die Person eines Menschen geworden sei, sondern sie nur in einer Art vermeintlichen Handelns und Wandelns dargestellt habe. Der katholische Glaube dagegen sagt, das Wort Gottes sei Mensch geworden, um das Unsrige nicht trüglich und scheinbar, sondern wahrhaft und wirklich anzunehmen, um das Menschliche nicht wie etwas Fremdes nachzumachen, sondern vielmehr als Eigenes zu besitzen und um ganz und gar das Wesen und die Person, die es darstellte, auch zu sein, wie auch wir in dem, was wir sprechen, denken, leben und sind, Menschen nicht nachahmen, sondern sind; z. B. Petrus und Johannes waren nicht durch Nachahmung, sondern in Wirklichkeit Menschen; ebenso stellte sich nicht Paulus als Apostel oder gab sich für Paulus aus, sondern er war Apostel und existierte als Paulus. So hat auch Gott das Wort, indem es Fleisch annahm und hatte, indem es im Fleische redete, handelte und litt — allerdings ohne irgendeine Verschlechterung seiner göttlichen Natur —, dies alles zu tun sich gewürdigt, nicht um einen vollkommenen Menschen nachzuahmen oder darzustellen, sondern um sich als solchen zu betätigen, so daß er ein wahrer Mensch nicht zu sein schien oder dafür gehalten wurde, sondern in Wirklichkeit war. Wie also die Seele, die mit dem Fleische verbunden, aber doch nicht in Fleisch verwandelt ist, nicht einen Menschen nachahmt, sondern ein Mensch ist, und zwar Mensch nicht dem Scheine, sondern der Wesenheit nach, so ist auch Gott das Wort, indem es sich ohne irgendeine Verwandlung seiner selbst und ohne Vermischung mit dem Menschen verband, nicht durch Nachahmung Mensch geworden, sondern in wirklichem Sein.
Fern sei also durchaus der Gedanke an eine solche Person, die durch Darstellung und Nachahmung S. 190angenommen wird, wo immer das eine ist und ein anderes vorgegeben wird, wo der, welcher darstellt, niemals derjenige ist, den er darstellt. Denn man darf nicht glauben, daß Gott das Wort auf solche trügerische Weise die Person eines Menschen angenommen habe; vielmehr wurde es, ohne Veränderung seiner eigenen Natur, durch Annahme der Natur eines in sich vollendeten Menschen, selbst Fleisch, selbst Mensch, selbst die Person eines Menschen, nicht eine scheinbare, sondern eine wahre, nicht eine nachgemachte, sondern eine wesenhafte, nicht eine solche, welche mit Beendigung ihrer Tätigkeit selbst zu sein aufhörte, sondern eine solche, die immer in ihrer Wesenheit verharrte.
Das lateinische Wort persona bezeichnet zunächst „Maske" oder die „Rolle", die ein Mensch spielt, dann aber auck den Menschen selbst. ↩
Kaiser Justinian verbot unter schweren Strafen, auf der Bühne die Rolle klösterlicher Personen oder eine ähnliche zu spielen [Nov. 128 a. E.]. ↩
Die Manichäer gaben Christo nur einen Soheinleib [Doketen]. ↩
