25. Die Häretiker mißbrauchen die Heilige Schrift.
[35] Hier könnte jemand fragen, ob sich auch die Häretiker der göttlichen Schrift bedienen. Freilich bedienen sie sich ihrer und sogar viel. Denn man kann sie alle Schriften des heiligen Gesetzes durchfliegen sehen, die Bücher des Moses und der Könige, die Psalmen, die Apostel, die Evangelien und die Propheten. Denn sowohl unter sich als auch bei Fremden, privatim und öffentlich, in Reden und in Schriften, bei Gastmählern und auf den Straßen bringen sie fast niemals etwas von dem Ihrigen vor, das sie nicht auch mit Schriftworten zu belegen versuchen. Lies die Werke des Paul von Samosata1 , des Priscillian, des Eunomius2 , des Jovinian3 und der übrigen Unheilstifter; da kannst du eine endlose Masse von Beispielen und kaum eine Seite finden, die nicht mit Sätzen aus dem Neuen oder Alten Testament geschminkt und gefärbt ist. Aber um so mehr muß man sie meiden und fürchten, je geheimer sie sich S. 212unter den Schatten des göttlichen Gesetzes verstecken; denn sie wissen, daß ihr Gestank so rasch bei keinem Gefallen finden würde, wenn sie ihn nackt und unverhüllt von sich gäben, und darum besprengen sie ihn gleichsam mit dem lieblichen Duft der himmlischen Sprache, damit der, welcher den menschlichen Irrtum ohne weiteres zurückweisen würde, die göttlichen Aussprüche nicht leicht mißachte. Und so machen sie es wie solche, die, wenn sie kleinen Kindern einen Becher mit bitterem Getränke reichen wollen, zuvor den Rand desselben mit Honig bestreichen, damit das arglose Alter, wenn es zuerst die Süßigkeit schmeckt, vor der Bitterkeit nicht zurückschrecke. Das besorgen auch jene, die schlechte Kräuter und schädliche Tränke mit dem schönen Namen Arznei versehen, damit nicht leicht jemand, der die Aufschrift „Heilmittel" liest, an Gift denke.
[36] Darum rief auch der Heiland: Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind4 . Was sind Schafskleider anders als die Aussprüche der Propheten und Apostel, welche diese mit der Einfalt der Schafe für jenes unbefleckte Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimm5 , wie eine Art Vlies gewebt haben? Wer sind die reißenden Wölfe, wenn nicht der wilde und gewalttätige Sinn der Häretiker, die den Hürden der Kirche immer nachstellen und die Herde Christi, wo sie nur können, zerfleischen? Um aber desto hinterlistiger an die nichts ahnenden Schafe heranschleichen zu können, legen sie, obschon sie die Wildheit der Wölfe beibehalten, doch die Wolfsgestalt ab und hüllen sich in Aussprüche des göttlichen Gesetzes ein wie in ein Vlies, damit ein jeder, wenn er die weiche Wolle fühlt, sich nicht vor den spitzen Zähnen fürchte. Aber was sagt der Heiland: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen?6 Das heißt: Wenn sie anfangen, jene göttlichen Worte nicht nur anzuführen, sondern auch auseinanderzusetzen, S. 213nicht nur hinzuwerfen, sondern auch zu erklären, dann wird man jene Bitterkeit und Herbheit, auch ihre Wut erkennen, dann wird das Gift der Neuerung ausgespritzt, dann werden die heillosen Neuerungen7 an den Tag kommen; dann kann man sehen, wie der Zaun durchbrochen8 , die Grenzsteine der Väter von der Stelle gerückt9 , der katholische Glaube niedergeworfen, die kirchliche Lehre zerrissen wird.
[37] Derart waren die, welche der Apostel Paulus im zweiten Korintherbriefe im Auge hat, wenn er sagt: Denn diese falschen Apostel sind trügerische Arbeiter, die sich umgestalten zu Aposteln Christi10 . Was heißt das: die sich umgestalten zu Aposteln Christi? Die Apostel beriefen sich auf Beispiele des göttlichen Gesetzes: auch jene beriefen sich darauf; die Apostel beriefen sich auf die Autorität der Psalmen: auch jene beriefen sich darauf; die Apostel beriefen sich auf Aussprüche der Propheten: nicht weniger taten das auch jene. Als sie aber anfingen, das, worauf sie sich in gleicher Weise berufen hatten, nicht in gleicher Weise zu erklären, da konnte man die Geraden von den Hinterlistigen, die Echten von den Gekünstelten, die Richtigen von den Scheinbaren, endlich die wahren Apostel von den falschen unterscheiden. Und das ist nicht zu verwundern, heißt es; denn selbst der Teufel verstellt sich in einen Engel des Lichtes; es ist also nichts Großes, wenn seine Diener sich umgestalten zu Dienern der Gerechtigkeit11 . Wenn also falsche Apostel, falsche Propheten oder falsche Lehrer sich auf Aussprüche des göttlichen Gesetzes berufen, um auf falscher Erklärung derselben ihre Irrtümer aufzubauen, so ist es nach der Lehre des Apostels Paulus nicht zweifelhaft, daß sie den schlauen Kunstgriffen ihres Lehrmeisters12 folgen; dieser würde solche nicht aussinnen, wenn er nicht wüßte, daß es, um zu täuschen, gar keinen leichteren S. 214Weg gibt, als dort, wo der Betrug frevelhaften Irrtums eingeführt wird, die Autorität der Worte Gottes vorzuschützen.
Paul von Samosata, Bischof von Antiochien, lehrte von Christus subordinatianisch, d. h. er nahm an, Jesus sei ein bloßer Mensch gewesen, in dem eine göttliche Kraft wohnte. Eine Synode in Antiochien 268 setzte ihn ab und schloß ihn aus der Kirche aus; er behauptete sich aber in seiner Stellung, bis Kaiser Aurelian ihn 272 entfernte. Von seinen Schriften sind nur Bruchstücke erhalten. ↩
Er war Bischof von Cyzikus und später Führer der strengen Arianer, die nach ihm Eunomianer hießen. Von seinen Schriften ist die 'AnoAoyta erhalten, die der hl. Basilius widerlegte; gegen diesen schrieb dann Eunomius eine Schrift, die zum Teil erhalten ist. ↩
Er war Zeitgenosse des hl. Hieronymus, der gegen ihn im Jahre 392 eine Schrift verfaßte [Contra Jovinianum]. Er wich in mehreren Punkten von der Kirchenlehre ab, z. B. hinsichtlich des Wertes der Jungfräulichkeit und dea Fastens. Die Fragmente seiner Schriften sammelte Haller, Jovinianus, Leipzig 1897. ↩
Matth. 7, 15. ↩
Joh. 1, 29. ↩
Matth. 7, 16. ↩
1 Tim. 6, 20. ↩
Pred. 10, 8. ↩
Spr. 22, 28. ↩
2 Kor. 11, 13. ↩
Ebd. 11, 14f. ↩
des Teufels. ↩
