24. Weitere Erklärung von 1 Tim. 6, 20.
[33] Doch kehren wir zum Apostel zurück. O Timotheus, sagt er, bewahre die Hinterlage, indem du die heillosen Wortneuerungen meidest. Meide sie, sagt er, wie eine Natter, wie einen Skorpion, wie einen Basilisken, damit sie dich nicht durch Berührung und nicht einmal durch ihren Blick und Hauch verwunden. Was heißt meiden? Mit einem solchen nicht einmal speisen1 . Was heißt: Meide? Wenn jemand, heißt es, zu euch kommt und diese Lehre nicht mitbringt2 . Welche Lehre, wenn nicht die katholische und allgemeine, die durch die unverfälschte Überlieferung der Wahrheit in der Folge der Zeiten eine und dieselbe bleibt und ohne Ende bis in Ewigkeit bleiben wird? Was dann? Nehmt ihn, heißt es, nicht ins Haus auf und sagt ihm keinen Gruß; denn wer ihn grüßt, nimmt an seinen bösen Werken teil3 . Die heillosen Wortneuerungen, sagt er; was heißt: heillosen? Solche, die nichts Heiliges, nichts Frommes an sich haben, die dem Heiligtum der Kirche, die ein Tempel Gottes4 ist, völlig fremd sind. Die heillosen Wortneuerungen, sagt er. Wortneuerungen sind Neuerungen in der Lehre, in der Sache, in der Auffassung, die dem Altertum und der Vorzeit entgegen sind, deren Annahme notwendig eine ganze oder doch teilweise Verletzung des Glaubens der seligen Väter ist und soviel bedeutet als behaupten, daß alle Gläubigen aller Zeiten, S. 209alle Heiligen, alle Reinen, Enthaltsamen und Jungfräulichen, alle Kleriker, Leviten und Priester, so viele Tau-sende Bekenner, so viele Scharen der Märtyrer, eine solche Menge von Städten und Völkern, so viele Inseln, Provinzen, Könige, Völker, Reiche und Stämme, kurz fast der ganze durch den katholischen Glauben Christo als seinem Haupte einverleibte Erdkreis so viele Jahrhunderte hindurch in Unwissenheit und Irrtum befangen gewesen sei, gelästert und nicht gewußt habe, was zu glauben sei.
[34] Die heillosen Wortneuerungen meide, heißt es. Solche anzunehmen und ihnen zu folgen, war niemals Sache der Katholiken, sondern immer den Häretikern eigen. Und in der Tat, welche Häresie tauchte je anders auf als unter einem bestimmten Namen, an einem bestimmten Orte und zu bestimmter Zeit? Wer stiftete je eine Sekte, ohne sich zuvor von der Übereinstimmung mit der Allgemeinheit und mit dem Altertum der katholischen Kirche losgesagt zu haben?
Für diesen Tatbestand sprechen Beispiele sonnenklar. Wer hat denn je vor jenem unseligen Pelagius5 dem freien Wahlvermögen eine solche Kraft beigelegt, daß er leugnete, zur Unterstützung desselben in allen einzelnen Akten des Guten sei die Gnade Gottes notwendig? Wer hat vor dessen mißgestaltetem Schüler Cälestius6 geleugnet, daß das ganze Menschengeschlecht in die Schuld der Sünde Adams verstrickt ist? Wer hat vor dem gotteslästerischen Arius gewagt, die Einheit der Dreifaltigkeit zu zerreißen, wer vor dem verruchten Sabellius7 , die Dreiheit in der Einheit zu verwischen? Wer hat vor dem überaus grausamen Novatian Gott grausam genannt, weil er den S. 210Tod des Sterbenden lieber wolle, als daß er sich bekehre und lebe?8 Wer hat vor dem Magier Simon, den das Strafgericht des Apostels traf9 , und von dem jener alte Pfuhl der Schändlichkeiten bis neuestens auf Priscillian10 herab in ununterbrochenem und geheimem Laufe sich ergossen hat, zu sagen gewagt, der Urheber des Bösen, d. h. unserer Frevel, Gottlosigkeiten und Schandtaten, sei Gott der Schöpfer? Er behauptet nämlich, Gott habe mit selbsteigenen Händen die menschliche Natur so gemacht, daß sie infolge ihres Triebes und durch notwendigen Willenszwang nichts anderes könne und nichts anderes wolle als sündigen, weil sie, durch die wahnsinnige Wut aller Laster aufgeregt und entflammt, in jeglichen Abgrund der Schändlichkeit fortgerissen werde11 .
Unzählig sind die Beispiele dieser Art, die wir aber der Kürze halber übergehen; jedoch erhellt aus all diesem klar und deutlich genug, daß es bei fast allen Häresien Gewohnheit und Regel ist, immerdar an frevelhaften Neuerungen Freude zu haben, die Satzungen des Altertums zu verwerfen und durch gegenteilige Behauptungen einer fälschlich so genannten Wissenschalt im Glauben Schiffbruch zu leiden12 . Dagegen ist es den Katholiken eigen, das von den heiligen Vätern S. 211Hinterlegte und Anvertraute zu bewahren, heillose Neuerungen zu verurteilen und mit dem Apostel zu sagen und immer wieder zu sagen: Wenn jemand etwas verkündet gegen das, was überliefert ist, den verfluchet13 .
1 Kor. 5, 11. ↩
2 Jon. 10. ↩
Ebd. 11. ↩
1 Kor. 8, 16. ↩
Der irische Möach Pelagius Leugnete [um 410—420] die Erbsünde und die Notwendigkeit der Gnade. ↩
Mißgestaltet [prodigiosus] wird er von Vinzenz wohl deswegen genannt, weil er von Geburt an Eunuch war. ↩
Der Libyer Sabellius lehrte [um 220], Vater, Sohn und Heiliger Geist seien nicht Personen, sondern nur Namen und Rollen der Gottheit, die Vater heiße, sofern sie schafft, Sohn seit und wegen der Erlösung und Heiliger Geist als Tröster und Heiliger. ↩
Novatian, ein römischer Priester [um 250], bestritt nur der Kirche das Recht, die Sünde des Abfalles vom Glauben zu vergeben; Vinzenz stellt seine Lehre fälschlich so dar, als wenn auch Gott diese Sünde nicht vergeben wolle. ↩
Apg. 8, 20. ↩
Der Spanier Priscillian, ein Laie, trug gnostiseh-manichäische Lehren vor, wurde von einer Synode zu Saragossa 380 exkommuniziert und 385 mit sechs Anhängern zu Trier von Kaiser Maximus hingerichtet. Elf Traktate von ihm wurden von Schepß aufgefunden und 1889 zu Wien veröffentlicht. ↩
Der Samariter Simon, der vom hl. Petrus für Geld die „Wundergabe kaufen wollte und später in Rom gnostische Lehren verbreitete, wurde von den Alten als der Erzketzer betrachtet [Iren. a. h. I 23, 2—3]. “Was Vinzenz hier von seiner Lehre mitteilt, ist sonst unbekannt; der hl. Irenäus sagt von ihm [a. a. 0.], er habe die Notwendigkeit guter Werke geleugnet. ↩
1 Tim. 6, 20 f. ↩
Gal. 1, 9. ↩
