11. Der angeführte Ausspruch des Moses wird auf die Irrlehren des Nestorius, Photinus und Apollinaris angewandt.
[16] Hier könnte jemand verlangen, daß das, was mit den Worten des Moses behauptet wurde, durch S. 180Beispiele aus der Kirchengeschichte bewiesen werde. Um also mit dem Nächstliegenden und Bekannten anzufangen, welcher Art war wohl kürzlich die Versuchung, als jener unselige Nestorius, plötzlich aus einem Schaf in einen Wolf verwandelt, die Herde Christi zu zerreißen anfing, da ihn selbst diejenigen, die angefallen wurden, großenteils noch für ein Schaf hielten und daher seinen Bissen mehr bloßgestellt waren? Denn wer hätte geglaubt, daß der so leicht irren würde, von dem er sah, daß er nach dem erhabenen Urteile des Hofes erwählt1 und von den Priestern sehnlichst gewünscht worden war, der großer Liebe der Heiligen und der höchsten Gunst des Volkes sich erfreute, täglich vor allem Volke die Aussprüche Gottes behandelte und alle verderblichen Irrtümer der Juden und Heiden als nichtig erwies? Wie hätte denn auch der nicht einem jeden die Überzeugung beibringen sollen, er lehre Rechtes, predige und glaube Rechtes, der, um seiner einen Irrlehre den Zugang zu eröffnen, die Lästerungen aller Irrlehren bekämpfte?2 Aber hier bewahrheitete sich der Ausspruch des Moses: Der Herr euer Gott versucht euch, ob ihr ihn liebt oder nicht3 .
Damit scheiden wir schon von Nestorius, der allezeit mehr Bewunderung fand als Nutzen stiftete und mehr Namen als Bedeutung hatte, und den in der Volksmeinung mehr menschliche als göttliche Gunst groß gemacht hatte. Wir wollen lieber solche erwähnen, die, mit vielen Vorzügen und mit großer Tatkraft ausgerüstet, den Katholiken eine nicht geringe Versuchung wurden. So soll in Pannonien zur Zeit unserer Vorfahren S. 181Photinus die Kirche von Sirmium4 versucht haben, wo er unter großem Beifall aller auf den bischöflichen Stuhl erhoben worden war und eine Zeitlang als guter Katholik sein Amt verwaltet hatte, dann aber plötzlich, wie jener schlimme Prophet oder Träumer, von dem Moses spricht, der ihm anvertrauten Gemeinde Gottes einzureden begann, sie möchte fremden Göttern nachgehen, d. h. fremden Irrtümern, von denen sie vorher nichts gewußt hatte. Doch das ist häufig der Fall; das Verderbliche aber war, daß er zu solchem Frevel sich nicht geringer Hilfsmittel bediente. Denn er besaß große Geistesgaben, war gelehrt und mächtig in der Rede, wie er denn auch beide Sprachen in Wort und Schrift beherrschte; das ergibt sich aus seinen Büchern, die er teils in griechischer, teils in lateinischer Sprache verfaßte5 . Doch zum Glück waren die ihm anvertrauten Schafe Christi für den katholischen Glauben sehr wachsam und vorsichtig und besannen sich schnell auf die Aussprüche des im voraus warnenden Moses; mochten sie auch die Beredsamkeit ihres Propheten und Hirten bewundern, so waren sie doch über die Versuchung nicht im unklaren. Denn dem sie früher wie einem Widder in der Herde folgten, den begannen sie später wie einen Wolf zu fliehen.
Und nicht nur an dem Beispiele des Photinus, sondern auch an dem des Apollinaris lernen wir die Gefahr jener kirchlichen Versuchung kennen, und zugleich werden wir dadurch zur Hut und zur sorgfältigen Beachtung des Glaubens gemahnt. Denn er brachte seine Zuhörer in große Angst und Verlegenheit, da die Autorität der Kirche sie hierhin, die Anhänglichkeit an den Lehrer aber dorthin zog und sie nun, zwischen beiden schwankend und unschlüssig, nicht wußten, welche Partei sie wählen sollten. Aber vielleicht war jener Mann derart, daß er ohne weiteres Verachtung S. 182verdiente? Im Gegenteil, er war so bedeutend und ausgezeichnet, daß er nur allzu bald bei sehr vielen Glauben fand. Denn wer hätte ihn an Scharfsinn, an Übung und an Gelehrsamkeit übertroffen? Wie viele Häresien er durch eine Menge von Schriften unterdrückt hat, wie viele glaubensfeindliche Irrtümer er widerlegt hat, das beweist jenes berühmte und großartige Werk von nicht weniger als dreißig Büchern, in welchem er die unsinnigen Verleumdungen des Porphyrius durch eine erdrückende Masse von Beweisen zuschanden gemacht hat6 . Es würde zu viel Zeit kosten, wenn ich alle seine Werke aufzählen wollte; er hätte durch sie gewiß den größten Baumeistern der Kirche gleichkommen können, wenn er nicht durch seine heillose Sucht häretischer Grübelei etwas Sonderliches gefunden hätte, womit er alle seine Arbeiten wie mit Aussatz befleckte und es verschuldete, daß seine Lehrtätigkeit nicht so sehr eine Erbauung als vielmehr eine Versuchung für die Kirche zu nennen war7 .
Nestorius, Priester in Antiochien, wurde im Jahre 428 vom Kaiser Theodosins II. auf den Patriarchenstuhl von Konstantinopel erhoben. Er war sehr beredt und wurde auch wegen seiner Enthaltsamkeit gerühmt. ↩
Am Tage seiner Bischofsweihe soll er vor allem Volke also zum Kaiser gesprochen haben: „Mache mir, o Kaiser, die Erde rein von Ketzern, und ich werde dir dafür den Himmel geben; vernichte mir die Häretiker, und ich werde dir die Perser vernichten„ [Socr. h. e. VII 29]. ↩
Deut. 13, 8. ↩
Diese ehemalige Hauptstadt von Illyrikum wurde 441 von den Hunnen zerstört [heute Mitrowicza in Kroatien]. ↩
Photinus wurde von einer Synode zu Sirmium 351 abgesetzt und von Kaiser Konstantes verbannt; er starb 376 in Kleinasien, wahrscheinlich zu Ankyra, woher er stammte. Von seinen vielen Schriften spricht auch der hl. Hieronymus [de vir. inl. 107]. ↩
Von diesem großen Werke des Apollinaris sind nur geringe Bruchstücke erhalten; es war gerichtet gegen die 15 Bücher des Neuplatonikers Porphyrius „Gegen die Christen“. ↩
Apollinaris, Bisohof von Laodikea in Syrien, starb 390. Über sein Leben und seine Schriften handelt am besten Lietzmann, Apollinaris von Laodikea und seine Schule, 1. Bd., Tübingen 1904; hier ist auch ein Teil der von ihm erhaltenen Schriften [meist theologisohe Traktate] abgedruckt. ↩
