17. Die Gelehrsamkeit und die Schriften des Origenes waren eine große Versuchung für die Gläubigen.
[23] Wir sagten früher1 , daß in der Kirche der Irrtum eines Lehrers für das Volk eine große Versuchung sei, eine um so größere Versuchung, je gelehrter der Irrende selbst ist. Das bewiesen wir zunächst durch die Autorität der Hl. Schrift, sodann an Beispielen aus der Kirchengeschichte, nämlich durch Erwähnung solcher Männer, die eine Zeitlang für rechtgläubig gehalten wurden, zuletzt aber entweder zu einer schon bestehenden Sekte abfielen oder selbst eine eigene Häresie S. 194gründeten. Fürwahr eine wichtige Sache, deren Kenntnis nützlich, deren Erwägung notwendig ist und die wir immer wieder durch neue Beispiele beleuchten und einschärfen müssen, damit alle wahren Katholiken wissen, daß sie mit der Kirche die Lehrer annehmen, nicht aber mit den Lehrern den Glauben der Kirche verlassen sollen.
Wir könnten nun viele Beispiele von Versuchung dieser Art beibringen; ich glaube aber, daß es kaum einen gibt, der hinsichtlich der Versuchung verglichen werden kann mit Origenes, in welchem sich so viel Vortreffliches, Einziges, Wunderbares fand, daß für den Anfang jeder leicht hätte meinen können, allen seinen Behauptungen sei Glauben zu schenken. Denn wenn der Lebenswandel Ansehen verschafft: groß war sein Fleiß, groß seine Keuschheit, Geduld, Standhaftigkeit; wenn Herkunft oder Bildung: wer war vornehmer als er, der zunächst in einer Familie geboren wurde, die durch das Martyrium ausgezeichnet wurde2 , der sodann für Christus nicht nur seines Vaters, sondern auch seines ganzen Vermögens beraubt wurde, aber unter den Bedrängnissen heiliger Armut solche Fortschritte machte, daß er um des Bekenntnisses des Herrn willen öfters, wie berichtet wird, zu leiden hatte?3 Doch das war nicht das Einzige an ihm, das nachher zur Versuchung werden sollte, sondern er besaß auch eine solche Geisteskraft, so viel Tiefe, Schärfe und Feinheit des Geistes, daß er fast alle weit übertraf, eine solche Gelehrsamkeit und eine so umfassende Bildung, daß es in der göttlichen Wissenschaft nur weniges, in der menschlichen vielleicht nichts gab, was er nicht vollständig erreichte; da seinem Wissenstrieb das Griechische nicht genügte, wandte er seine Arbeit auch dem Hebräischen zu4 . Was soll ich S. 195aber von seiner Beredsamkeit sagen, deren Redestrom so lieblich, so angenehm und so süß war, daß mir aus seinem Munde mehr Honig als Worte geflossen zu sein scheinen. Was hat er nicht, war es auch schwer zu beweisen, durch die Kraft seiner Rede aufgehellt und, wenn es schwer auszuführen war, dahin gebracht, daß es ganz leicht erschien? Aber vielleicht hat er seine Behauptungen nur auf menschliche Beweisgänge gestützt? Das Gegenteil ist der Fall: es gab nie einen Lehrer, der sich mehr der Zitate aus dem göttlichen Gesetze bedient hätte. Vielleicht aber hat er nur weniges geschrieben? Kein Sterblicher hat mehr geschrieben, so daß, wie ich glaube, seine Werke in ihrer Gesamtheit nicht nur nicht gelesen, sondern nicht einmal aufgestöbert werden können5 . Und damit ihm an Hilfsmitteln der Wissenschaft nichts fehle, wurde ihm auch noch die Fülle des Alters zuteil6 . Aber vielleicht war er mit seinen Schülern weniger glücklich? Wer war hierin je glücklicher? Denn unzählige Lehrer sind aus seiner Schule hervorgegangen, unzählige Priester, Bekenner und Märtyrer.
Wer aber könnte beschreiben, wie viel Bewunderung er bei allen fand, wie groß sein Ruhm, wie groß sein Ansehen war? Wer eilte nicht, wenn er auch nur etwas religiöses Interesse hatte, zu ihm hin von den äußersten Teilen der Welt? Welcher Christ verehrte ihn nicht fast wie einen Propheten, welcher Philosoph nicht fast wie einen Lehrer? Wie verehrungswürdig er nicht nur Privatpersonen, sondern sogar dem Hofe erschien, zeigt die Geschichte, die erzählt, daß ihn die Mutter des Kaisers Alexander7 zu sich berief, offenbar um der himmlischen S. 196Weisheit willen, von deren Gnade er und von deren Liebe sie überfloß; aber Zeugnis davon geben auch seine eigenen Briefe, die er an den Kaiser Philippus, der zuerst unter den römischen Herrschern ein Christ war, mit der Autorität des christlichen Lehramtes richtete8 . Wenn jemand in betreff seines unglaublich großen Wissens unserem Berichte als einem christlichen Zeugnisse keinen Glauben schenkt, so möge er wenigstens das Zeugnis heidnischer Philosophen annehmen. Es sagt nämlich jener gottlose Porphyrius9 , daß er auf seinen Ruf hin fast noch im Knabenalter nach Alexandrien gekommen sei und ihn, der damals schon ein Greis war, dort gesehen habe als einen in jeder Hinsicht so bedeutenden Mann, als wenn er das Gebäude der ganzen Wissenschaft aufgeführt hätte. Der Tag würde zu Ende gehen, ehe ich das, was sich an jenem Manne Vorzügliches fand, auch nur zum kleinsten Teile aufgezählt hätte.
Und doch diente dies alles nicht nur zum Ruhme der Religion, sondern auch zur Mehrung der Versuchung. Denn wie viele hätten wohl einen Mann von so viel Geist, von solcher Gelehrsamkeit und Beliebtheit leichthin aufgegeben und nicht vielmehr nach jenem Satze gehandelt: Sie wollen lieber mit Origenes irren als mit anderen recht haben10 . Und was weiter? Es kam so weit, daß die von einer solchen Persönlichkeit, einem solchen Lehrer, einem solchen Propheten ausgehende nicht gewöhnliche, sondern, wie der Verlauf zeigte, allzu gefährliche Versuchung sehr viele von der Reinheit des Glaubens abbrachte11 . Und so hat dieser so S. 197ausgezeichnete Origenes, weil er die Gnade Gottes übermütig mißbrauchte, weil er seinem Genie zu viel vertraute und sich selbst für genügend hielt, weil er die alte Einfachheit der christlichen Religion geringschätzte und gescheiter als alle zu sein sich vermaß, weil er, die kirchlichen Traditionen und die Lehren der Alten mißachtend, einige Stellen der Heiligen Schrift auf neue Weise erklärte, ich sage, er hat es verschuldet, daß auch in betreff seiner zur Kirche Gottes gesagt wurde: Wenn in deiner Mitte ein Prophet aufsteht, und kurz darnach: so höre nicht auf die Worte jenes Propheten, und dann: denn es versucht euch der Herr euer Gott, ob ihr ihn liebt oder nicht12 . Wahrlich, es war nicht nur eine Versuchung, sondern sogar eine große Versuchung, die ihm ergebene Kirche, die sein Genie, seine Wissenschaft und Beredsamkeit, seinen Wandel und den ihm eigenen Reiz bewunderte, an ihm hing, nichts in betreff seiner argwöhnte und nichts fürchtete, plötzlich von der alten Religion zu einer neuen falschen Lehre unvermerkt und allmählich hinüberzuführen. Aber man wird sagen, die Schriften des Origenes seien gefälscht worden13 . Ich will mich nicht dagegen erklären, sogar eher dafür; denn es ist von einigen überliefert und geschrieben worden, nicht nur von Katholiken, sondern auch von Häretikern. Aber in diesem Falle müssen wir beachten, daß, wenn auch nicht er selbst, so doch die unter seinem Namen herausgegebenen Schriften eine große Versuchung sind, da sie, von S. 198gotteslästerischen Behauptungen wimmelnd, nicht als die eines anderen, sondern als die seinigen gelesen und geschätzt werden, so daß, wenn auch der Sinn des Origenes dem Irrtum fremd war, doch das Ansehen des Origenes zur Verbreitung des Irrtums viel beiträgt.
Kap. 10 ↩
Sein Vater Leonidas starb im Jahre 203 als Märtyrer; dabei wurde auch das Vermögen der Familie eingezogen. ↩
Dem Blutbad, welches Kaiser Caraealla um 215 in Alexandrien anrichtete, entging Origenes nur durch die Flucht; unter Kaiser Decius wurde er im Kerker hart gefoltert und starb bald nachher [um 251]. ↩
Die schönste Frucht dieser Studien des Origenes und zugleich sein monumentalstes Werk waren die Hexapla, die wegen ihres großen Umfanges nicht leicht abgeschrieben werden konnten und fast ganz untergegangen sind. Große Kenntnisse im Hebräischen besaß er nicht; er selbst schreibt einmal [hom. in Nnm, 14, 1]: Aiunt ergo, qui hebraicas litteras legunt. ↩
Der hl. Epiphanius [gest. 405] berichtet sogar, Origenes habe 6000 „Bücher„ geschrieben [haer. 64, 63]. Man nannte ihn wegen seiner Arbeitskraft Adamantios, d. h. Mann von Stahl [Eus. bei Phot. cod. 118]. ↩
Er starb im 70. Lebensjahre. ↩
Julia Mammäa, die Mutter des Kaisers Alexander Severus [222—235]. ↩
Auch Eusebius berichtet [h. e. VI 36, 3], daß Origenes einen Brief an Kaiser Philippus Arabs [244—249] und einen andern an dessen Gemahlin Severa richtete. Daß dieser Kaiser Christ wurde, sagen Eusebius [chron. ad a. 247] und Orosius [hist. VII 20]; es ist aber sehr unwahrscheinlich. ↩
Dieser neuplatonische Philosoph [gest. 304 zu Rom] schrieb 15 Bücher „Gegen die Christen“, die verloren gegangen sind. ↩
Cicero sagt [Tuso. I 17, 39]: Errare mehercule malo cum Piatone . . . quam cum istis vera sentire. ↩
Der Streit um die Rechtgläubigkeit des Origenes begann schon bald nach seinem Tode; er war besonders heftig am Ende des 4. Jahrh., als der hl. Epiphanius und der Patriarch Theophilus von Alexandrien gegen die sog. Origenisten angingen. Im Jahre 543 erließ auf Betreiben des Kaisers Justinian eine Synode zu Konstantinopel 15 Anathematismen gegen Origenes, und das allgemeine Konzil zu Konstantinopel 553 zählte ihn zu den Irrlehrern. ↩
Deut. 13, 1-3. ↩
Schon Origenes selbst klagte, seine Schriften seien von Häretikern verfälscht worden; dasselbe sagte später Sulpicius Severus [dial. I 6]. In unserer Zeit wollte Professor Vracenzi in Rom die Irrlehren des Origenes auf solche Fälschungen zurückführen [In s. Gregorii Nysseni et Origenis scnpta, 4 Bde., Korn 1864ff.]; aber das hat nichts Stichhaltiges für sich. ↩
