49.
Es ist nicht ratsam, daß der Obere eine große Vorliebe für die Priorin oder eine besondere Übereinstimmung mit ihr an den Tag lege; wenigstens zeige er dies nicht vor den übrigen, sonst würde er sie mutlos machen, so daß sie es nicht mehr wagten, ihm die Fehler der Priorin zu offenbaren. Er beachte es wohl, wie notwendig es ist, daß alle die Überzeugung haben, er werde die Priorin nicht entschuldigen, sondern abstellen, was abzustellen ist! Denn es gibt für eine für Gott und den Orden eifernde Seele keine größere Betrübnis, als wenn sie in ihrem Kummer sehen muß, wie alles abwärtsgeht und beim alten bleibt, nachdem sie vom Oberen Abhilfe gehofft. Sie wendet sich dann zu Gott mit dem entschiedenen Willen, in Zukunft zu schweigen, wenn auch alles zugrunde ginge; denn sie sieht ja, wie wenig ihr Reden nützt. Die armen Kinder werden nur einmal angehört, wenn sie nämlich zur Vernehmung vorgeladen werden, indes die Priorinnen viele Zeit haben, ihre Fehler zu entschuldigen oder als minder häufig anzugeben, Gründe für ihr Verhalten vorzubringen und vielleicht die arme Anklägerin zu beschuldigen, sie habe nur aus Leidenschaft wider sie geredet; die Priorinnen aber werden, wenn man ihnen auch keinen Namen sagt, mehr oder minder erraten können, wer die Anzeige gemacht hat. Der Visitator jedoch kann nicht selbst Zeuge der Vorgänge im Kloster sein, und es wird ihm alles so dargestellt, daß er es für glaubwürdig halten muß, und so bleibt alles beim Alten. Könnte er selbst längere Zeit als Zeuge es ansehen, so würde er sich von dem wahren Sachverhalt überzeugen. Zwar haben die Priorinnen nicht die Absicht, etwas Unwahres zu sagen; aber unsere Eigenliebe ist von der Art, daß wir wunderselten uns erkennen und uns selbst die Schuld geben.
