2.
Welche Schriftverse kommen also heute an die Reihe?
„Das alles ist aber geschehen, auf dass erfüllt werde, was der Herr durch des Propheten Worte sprach.“
Der Größe des Wunders nach Möglichkeit entsprechend rief der Engel aus: „Das alles ist aber geschehen.“ Da er nämlich die Tiefe und den Abgrund der Liebe Gottes schaute, das Unverhoffteste verwirklicht, die Naturgesetze aufgehoben, die Versöhnung bewirkt, den Höchsten herabgestiegen zum Niedrigsten, die trennende Wand niedergeworfen, die Hindernisse gehoben, und noch weit mehr als all dies, so faßte er das Wunder in ein einziges Wort zusammen und sprach: „Das alles ist aber geschehen, auf dass erfüllt werde, was der Herr durch des Propheten Worte sprach.“ Glaube nicht, will er sagen, dass all dies erst jetzt[^154] beschlossen worden sei; schon seit langem waren die Vorbilder dafür erschienen. Das will ja auch der hl. Paulus bei jeder Gelegenheit nachweisen. Den Joseph verweist der Engel auf Isaias, damit er, hätte er beim Erwachen seine Worte vergessen, die erst kurz zuvor gesprochen waren, sich wenigstens der Worte des Propheten erinnere, mit denen er von Jugend auf vertraut war, und so auch des Engels Worte behielte. Der Jungfrau sagte er nichts dergleichen. Sie war ja noch ein Mädchen und hatte in diesen Dingen keine Erfahrung; mit dem Manne, der gerecht war und eifrig die Propheten las, hat er S. 87davon gesprochen. Und zuvor sagte er: „Maria, dein Weib.“ Dann aber, als er die Worte des Propheten erwähnt hatte, da vertraute er ihm auch den Namen der „Jungfrau“ an. Joseph wäre nicht so ruhig geblieben, als er den Namen „Jungfrau“ von dem Engel hörte, hätte er ihn nicht früher schon bei Isaias gelesen. Er sollte ja nichts Neues von dem Propheten erfahren, sondern etwas, das ihm längst bekannt, womit er seit langer Zeit vertraut war. Um ihm also das Gesagte annehmbar zu machen, beruft sich der Engel auf Isaias. Doch bleibt er auch dabei nicht stehen, sondern führt die Sache bis auf Gott zurück; denn nicht bloß eines Propheten Worte seien es, sondern sie kämen von Gott, dem Herrn des Weltalls. Darum sagte er auch nicht: „Auf dass erfüllt werde, was Isaias gesagt hat“, sondern „was der Herr gesagt hat“. Der Mund war allerdings des Isaias Mund, die Weissagung aber kam von oben. Worin besteht also diese Weissagung? „Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird seinen Namen Emmanuel nennen“[^155] . Warum aber, fragst du, ward er dann nicht Emmanuel genannt, sondern Jesus Christus? Weil es nicht heißt „du wirst nennen“, sondern „sie werden nennen“, die Leute nämlich und die tatsächlich eintretenden Ereignisse. Hier wird ihm nach der wirklichen Tatsache der Name beigelegt; denn die Hl. Schrift pflegt lieber die entsprechende Sache als bloße Namen zur Bezeichnung zu gebrauchen. Nichts anderes also bezeichnen die Worte. „Sie werden ihn Emmanuel nennen“, als: Sie werden Gott mit dem Menschen schauen. Allerdings hat Gott immer mit den Menschen verkehrt, aber niemals in so sichtbarer Gestalt. Sollten die Juden sich erkühnen, dagegen Einwendungen zu machen, so werden wir sie fragen: Wann hat man denn das Kind genannt: „Beraube schnell, plündere in Eile“? Darauf werden sie keine Antwort wissen. Warum sagte also der Prophet: Gib ihm, den Namen: „Beraube schnell“?[^156] Weil er nach seiner Geburt S. 88gleichsam eine Kriegsbeute wurde, die man verteilt; deshalb ist ihm auch im Leben das widerfahren, was sein Name besagt.
„Die Stadt aber“, sagt der Prophet weiter, „wird die Stadt der Gerechtigkeit genannt werden, die treue Hauptstadt, Sion.“ Da finden wir auch nirgends, dass Sion den Namen „Stadt der Gerechtigkeit“ führte, sondern sie behielt immer ihren Namen: Jerusalem. Da sie jenes aber in Wirklichkeit wurde, als sie ein besseres Jerusalem geworden war, so sagte er, sie werde mit diesem Namen genannt. Wenn nämlich ein tatsächliches Ereignis eintritt, das deutlicher als ein bloßer Name denjenigen bezeichnet, der sein Urheber ist, so sagt man, die Sache selbst habe ihm den Namen gegeben. Sollten aber die Juden, mit diesem Einwand zum Schweigen gebracht, einen anderen suchen, etwa gegen das, was wir über die Jungfrau gesagt, und uns andere Schrifterklärer entgegenhalten, die sagen, es heiße nicht: Jungfrau, sondern: junges Mädchen, so erwidern wir darauf zunächst, dass der Septuagintatext unter allen wohl mit Recht als der zuverlässigste gilt. Unsere Gegner brachten ihre Erklärung erst nach dem Erscheinen Christi vor, und blieben Juden. Es dürfte also der Verdacht nicht unbegründet sein, dass sie mehr aus Voreingenommenheit so redeten und die Propheten absichtlich entstellten. Die Siebzig aber machten sich hundert und mehr Jahre vor Christus an ihr Werk, und bei ihrer großen Anzahl sind sie über jeden solchen Verdacht erhaben, und sowohl in Anbetracht der Zeit als ihrer Zahl, sowie wegen ihrer gegenseitigen Übereinstimmung verdienen sie wohl viel eher Glauben.