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S. b88 1. Hier stoße ich auf die Tatsache, daß der Begriff „vollkommen“ vielerlei Bedeutungen hat, je nach der Tätigkeit, in der einer etwas Hervorragendes leistet. Es kann ja einer vollkommen werden als ein frommer oder als ein geduldiger oder ein enthaltsamer oder ein arbeitsamer Mensch oder als Märtyrer oder als Gnostiker.
2. Ob aber irgendein Mensch in allem zugleich vollkommen sein kann, insofern er noch Mensch ist, das weiß ich nicht, ausgenommen allein den Herrn, der um unsretwillen Menschengestalt angenommen hat. Freilich auch nach dem Gesetz allein könnte einer vollkommen sein, das (dem, der es befolgt) nur die Vermeidung von Bösem in Aussicht stellt; sie ist aber nur ein Weg, der zum Evangelium und zum Vollbringen des Guten führt.1
3. Aber die (wirkliche) Vollkommenheit eines Gesetzesmenschen besteht erst in der gnostischen Hinzunahme des Evangeliums, damit der dem Gesetze nach Vollkommene in Erscheinung treten kann. Denn so sollen wir nach der Weisung des Trägers des Gesetzes Moses dieses hören,2 daß wir nach dem Wort des Apostels Christus als „die Erfüllung des Gesetzes“3 auffassen.
4. Durch das Evangelium macht aber der Gnostiker bereits weitere Fortschritte, wobei er das Gesetz nicht nur als eine nach oben führende Stufe benützt,4 sondern es auch so versteht und so auffaßt, wie es der Herr, der die beiden Testamente gegeben hat, den Aposteln überlieferte.
5. Wenn er aber auch einen richtigen Lebenswandel führt (es ist ja unmöglich, daß Erkenntnis aus verkehrtem Handeln hervorgehen könnte) und dazu noch nach wahrhaftigstem Bekenntnis aus Liebe Märtyrer wird und so eine höhere Würde (soweit bei Menschen davon geredet werden kann) gewinnt, so wird er auch trotzdem nicht dahin kommen, daß er noch im fleischlichen Leben „vollendet“ genannt wird, weil der Abschluß des ganzen Lebens diese Bezeichnung als Vorrecht für sich in Anspruch genommen hat, für die Zeit, wo der gnostische Märtyrer bereits dahin gelangt ist, daß er das vollkommene Werk in vollgültiger S. b89 Weise zeigen und vorlegen kann, indem er in gnostischer Liebe sein Blut geopfert hat und seinen Geist aufgibt.
