66. Kapitel. Eine andere Vision des Antonius vom Hinübergang der Seelen nach dem Tode.
Er besaß auch folgende Gnadengabe. Wenn er allein auf dem Berge saß, etwas bei sich suchte und unsicher war, dann wurde ihm dies auf sein Gebet von der Vorsehung enthüllt; der Selige stand, wie es in der Schrift heißt, in göttlicher Unterweisung.1 Er hatte S. 752 hierauf einmal eine Unterredung mit einigen, die zu ihm kamen, über den Zustand der Seele und darüber, welcher Ort ihr nach diesem Leben bestimmt sei. In der folgenden Nacht rief ihn jemand von oben an und sagte: ,,Antonius, stehe auf, gehe hinaus und sieh!" Er ging hinaus, denn er wußte, welchen man gehorchen müsse, blickte auf und sah eine große Gestalt, mißgeformt und furchtbar, die dastand und bis zu den Wolken reichte; auch sah er Wesen, welche aufwärts stiegen, wie wenn sie Flügel hätten. Und der Riese streckte die Arme aus; die einen hielt er ab, die anderen aber flogen darüber und wurden dann, nachdem sie durchgekommen waren, sicher emporgetragen. Über solche nun knirschte der Riese mit den Zähnen, über die aber, welche herunterfielen, freute er sich. Und sogleich richtete sich an Antonius eine Stimme: "Verstehe, was du siehst!"2 Der Verstand wurde ihm aufgetan,3 und er begriff, daß dies der Hinübergang der Seelen sei und der dastehende Riese der Feind, der auf die Gläubigen voll Neid ist; und wie er die, welche ihm verfallen sind, ergreift und hindert hindurchzukommen, während er die, welche ihm nicht gefolgt haben, nicht fassen kann, da sie über ihn weggehen. Als er dies wieder gesehen hatte, kämpfte er in der Erinnerung daran nur noch mehr, um täglich vollkommener zu werden.4 Er hat das Erlebnis nicht aus freien Stücken erzählt; während er aber im Gebet verweilte und in Staunen versunken war, fragten ihn einige aus seiner Umgebung und drängten ihn, und so wurde er genötigt, zu sprechen, da er es als Vater S. 753 seinen Kindern nicht verbergen konnte. Er glaubte dazu auch, daß sein Gewissen rein sei, für sie aber die Erzählung nützlich werde, wenn sie lernten, daß die Frucht der Askese gut sei und daß man oft als ein Linderungsmittel der Mühen Gesichte erhalte.
Als Parallele drängt sich hier naturgemäß das vielumstrittene Daimonion des Sokrates auf; doch ist die Ausgestaltung des Gedankens an unserer Stelle eine durchaus christliche. F. Überweg - M. Heinze, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 1. 10. Aufl. K. Prächter. Berlin 1909. S. 95: Das dämonische Zeichen ist die von Sokrates als Stimme der Gottheit aufgefaßte auf praktischem Takt beruhende Überzeugung von der Angemessenheit oder Unangemessenheit gewisser Handlungsweisen (auch in sittlicher Hinsicht). S. 103: apol. p. 31 D: von Jugend an habe er immer eine Stimme vernommen, die jedoch jedesmal nur warne, nicht antreibe. Weniger genau Xenoph. mem. 1, 4, 15. 4, 3, 12. Die Macht, von welcher diese innere Stimme ausgeht, ist ὁ θεός, die Gottheit (mem. 4, 8, 6); οἱ θεοὶ, die Götter (mem. 1, 4, 15. 4, 3, 12). Es sind dieselben Götter, welche zum Menschen auch durch Orakel reden. Vgl. dagegen W. v. Christ, Geschichte der griechischen Litteratur. 5. Aufl. W. Schmid. Bd. 1. München 1905. S. 607 Anm. 2 und die hier angeführte Schrift Pöhlmanns. ↩
Vgl. Dan 9,23. ↩
Vgl. Lk 24,45. ↩
Vgl. Phil 3,13. ↩
