33.1.
Nach derselben Melodie.
1. Verhaßt ist den Irrenden die Ursache von Heilsveranstaltungen, daß z. B. geschrieben steht 2: „Gott S. 123 erwachte wie ein Schlafender.“ Der Wachende schlief und lehrte, daß die Sünden der Menschheit ihn zu unserm Heile eingeschläfert haben. Auch unser Herr schlief, wie geschrieben steht 3, im Schiffe; er schlief, damit das Gebet ihn aufwecke um zu zeigen, daß das Gebet in der Not Rettung erwecken kann.
Kehrvers 4: Gepriesen sei, der kam und die Seinigen errettete; gepriesen sei, der sich herbeiließ, unsere Wunden zu heilen!
2. Wenn sie nun schon deshalb unsern Schöpfer hassen, weil er in jeglicher Form gering [klein] ward, um uns auf jede Weise Leben zu spenden, um wieviel mehr müßten sie dann in jeder Weise den Fremden hassen, da sein eigener Wille den Anlaß gab, daß sie ihn ans Kreuz schlugen und töteten und begruben! Und wenn diese harten Dinge ihre Hartnäckigkeit nicht brechen, zeigen sie, wie weit ihre Schmähsucht geht 5.
3. Dafür mühte er sich um die Menschheit in jeder Weise ab, indem er keine Möglichkeit und kein Heilmittel unversucht ließ, um sich selbst nicht vorzuwerfen, daß noch ein Mittel gewesen wäre, das er verschmäht und unterdrückt hätte. Er verachtete das Tadelwort der Sünde, um uns das Hilfsmittel der Gerechtigkeit zu reichen; denn er setzte sich über alle Tadler hinweg, nur damit seine Gerechtigkeit ihn nicht tadle.
4. Er bewies, daß seine Macht, uns zu helfen, nicht überdrüssig werde, er zeigte, daß seine Liebe auf unsere Ehre nicht mißgünstig sei, er lehrte, daß ihm selbst Schande nicht lästig war, um uns zu Hilfe zu S. 124 kommen. Wenn es [noch] ein Mittel, uns zu helfen, gegeben hätte, und unser Schöpfer hätte nicht gewollt, es anzuwenden, außer daß es sich um Unwürdiges oder Schlechtes handle, dann wäre er entweder neidisch oder furchtsam oder träge gewesen.
5. Darum trug er kein Bedenken, sich mit Reue zu bekleiden, darum scheute er sich nicht, wie ein Eifernder aufzutreten, darum schämte er sich nicht, sich zum Schlafe niederzulegen und Opfer zu fordern. Er ließ kein Mittel unversucht, um der [menschlichen] Freiheit, die volle Verfügung hatte, zu helfen, so daß ein Tadler nur seinen Wahnsinn beweist, wo der Erbarmer seine Güte zeigt.
6. Dieses hatte er in Bildern zum Nutzen [der Menschen] veranstaltet; er hat es aber dann auch in Wirklichkeit zum Heile ausgeführt. Er sandte seinen geliebten Sohn, und [dieser] kam zur Geburt, zur Beschimpfung und zur Kreuzigung, damit seine Gerechtigkeit ihm nicht vorwerfe, daß er durch seine Geburt hätte heilen können, und er habe nicht geheilt, und damit seine Güte ihn nicht richte, daß er durch das Kreuz hätte Leben spenden können und er habe es nicht gespendet.
7. Der Erstgeborene nahte sich und bot seine Wangen den Faustschlägen dar. Wer nun tadelnd fragt, warum ist er herabgestiegen und läßt er sich schlagen, mit einem solchen wird der Gerechte rechten: „Für dich ward ich geschlagen, damit du durch meine Beschimpfung Ehre erlangest.“ Für jene, die seine Geburt und auch seinen Tod tadeln, wurde er geboren und auch gekreuzigt. Wie sollte man da noch Tadler finden? Der Tadel wendet sich ja gegen sie zurück.
8. Wer die Majestät tadelnd fragt, warum sie sich klein gemacht, der wird von ihr zurechtgewiesen, daß sie klein geworden, um ihn groß zu machen. Wer ihre Erniedrigung tadelt, der wird von ihr zurechtgewiesen, daß sie sich erniedrigt habe, um ihn zu erhöhen. Wenn du über deinen Herrn dich scheltend und S. 125 tadelnd aussprichst, wendet sich die Anklage gegen dich: Wie kannst du jenen tadeln, der aus Liebe zu dir sich dem getadelten Werke unterzog!
9. Du bist sehr tadelnswert, weil deine Krankheit die Majestät gezwungen hat, dich durch zahlreiche Veranstaltungen zum Leben zu bringen. Weil du ein Kind bist, ward sie gleichsam eine Amme, um dir Milch zu reichen; weil sie sah, daß dein Körper befleckt war, ward sie zu einer Quelle der Reinigung. Tadle also die reine Quelle, daß sie durch deinen Schmutz verunreinigt wurde, da sie [an sich] rein ist 6!
10. Wie kann wohl ein Leidender, der geheilt werden soll, vor dem reinen Arzt zurückschrecken, der sich seinem Geschwür naht? Die Verwundeten sahen jenen Arzt, der voll von ihrem Geschwür war und bebten vor ihm zurück. Die Wunden der Leugner empfanden Ekel vor dem Erbarmer, der sich nahte und sie heilte. Sie schreckten zurück vor seiner Reinheit, die von den Geschwüren ihrer Leiden voll war.
11. Anstatt jenen glorreichen Arzt zu preisen, der sich unserm Geschwür nahte und unsere Wunden heilte, und anstatt seine Hände zu küssen, die von dem Eiter unserer Fäulnis besudelt wurden, schreckten die Verwundeten vor dem Heilmittel des Lebens zurück, das von dem Blute ihrer Leiden befleckt war; und während eine Danksagung in geringem Maße erfolgte, traten ihm die Leugner mit Anklagen entgegen.
Zingerle gab eine metrische Übersetzung dieses Hymnus im 4. Bande der Innsbrucker Ausgabe, S. 306 – 310, eine Prosaübersetzung im 2. Ephrämbande der ersten Auflage der Bibliothek der Kirchenväter, S. 279 – 282 ↩
Ps. 77,65. ↩
Matth. 8,24. ↩
Die Londoner Hs hat hier den Kehrvers, der nach der vatikanischen Handschrift beim 32. Hymnus angegeben wurde. ↩
Die Ausdrucksweise dieses Gedankens ist zum Teil durch Wortspiele beeinflußt, die sich im Deutschen nicht wiedergeben lassen. ↩
Von hier ab bis zum 45. Hymnus fehlt der Text der Londoner Haupthandschrift, Add. 12 176. ↩
