5.
Nach derselben Melodie.
1. Warte, und ich will dir sagen: Siehe, ein Tor läuft an die Tür des Chaldäers und geht, um seine Freiheit den Gestirnen zu unterwerfen, die [doch] durch S. 24 das [Natur-] Gesetz gebunden sind! Du bist, wenn du willst, der Herr ihrer aller; statt jenem, der dich in Irrtum führt, ahme vielmehr dem nach, der die Sonne aufhielt, um dich zu belehren, wieviel das Gebet vermag 1.
Kehrvers: Selig jener, der durch deine Wahrheit die Frevler beschämte!
2. Wenn der Chaldäer meine Taten und Werke, die ich getan habe und tun werde, mir offenbart, und wenn ferner die Willensfreiheit unter der Herrschaft des Fatums gefangen gehalten ist, dann soll er auch in seiner Weisheit die Ausdrücke und Worte offenbaren, die ich sprach und sprechen werde, denn es können doch meine Worte dem Fatum, das [angeblich] alles lenkt, nicht entgehen.
3. Wenn aber die Willensfreiheit Gewalt hat über ihre Gedanken und ihre Worte keineswegs unter das Fatum fallen, so kann dann weder ihr Reden noch ihr Handeln von ihm erfaßt werden; die eine Hälfte von ihr liefert uns den Beweis für ihre andere Hälfte: wenn ihr Wort für das Fatum zu hoch ist, um wieviel höher ist dann ihr Handeln? Denn niemals hat ein Zwang ihr Wollen gebeugt.
4. Und wenn infolge des Fatums viele Blinde auf Erden sind, warum gibt es nicht viele Könige mit ihren Kronen? Wenn ferner infolge des Fatums ein Tauber [in seinem Gebrechen] dem andern gleicht, warum sind sie dann nicht auch in Figur und Gesicht gleich? Das zeigt, daß der eine gleichmacht, was für uns gut ist, und unterscheidet, was uns frommt.
5. Er hat die Gesichter verschieden gemacht, er hat die Antlitze geformt, er hat gleich gemacht die Prüfungen und die Grübler verwirrt; er hat S. 25 Unterschiede gemacht, damit wir erkennen, er hat Gleiches gebildet, damit wir erstaunen, er schuf Gleiches und Ungleiches, um uns mit Bewunderung zu erfüllen; er hat seine Unterschiede gleichgemacht, denn eins ist das Urbild der Menschen; er hat seine gemeinsamen Merkmale unterschieden, denn einer ist, der alles kennt.
6. Sehr verwirrend ist für uns der Anblick seiner Anordnungen, und gleichsam ohne Ordnung macht er arm und wieder reich, und doch ist diese Unordnung ganz der Ordnung unterworfen, wie auch jeder einzelne der Sterne, die gleichsam ungeordnet sind, doch geordnet und nach dem Gesetz hingestellt ist, nicht damit sie mich vergewaltigen, sondern um mir Ermahnungen zu geben.
7. Nicht als Herren unserer Freiheit sind sie hingestellt, sondern als Diener für unsere Herrschaft; Leuchten sind sie [uns] auf dem Festlande, Meilensteine auf dem Meere, indem das Auge sich nach ihrem Wahrzeichen richtet; die Plejaden, der Wagen, die Hyaden [?], der Orion lehren uns ohne Irrtum, daß einer ist, der alles lenkt.
8. Königsszepter und Gesetze bezeugen, daß es eine Willensfreiheit gibt, denn sie bestrafen die Frevler und unterweisen die Unkundigen. Wer gemordet, erwürgt, Ehebruch getrieben und geraubt hat, ruft laut, daß wir Willensfreiheit besitzen. Und wenn wir keine Freiheit hätten, wie sollte es da eine Anklage geben? Das Fatum muß seinen Mund schließen bei der Stimme des Anklägers.
9. Wieviel Taube gibt es, die mit dem einen [gleichen] Gebrechen gekennzeichnet sind? Aber nicht zehn gibt es, die das gleiche Aussehen aufweisen; auch nicht einmal fünf hat das Fatum mit dem gleichen Gesicht gezeichnet. Die Wahrheit sah, daß der Irrtum die Kinder mit den Nativitäten und die Gebrechen miteinander übereinstimmend machen wollte; da änderte sie die Gesichter, um die Nativitäten zuschanden zu machen.
10. S. 26 In unserm Zeitalter leben Menschen, die 110 Jahre alt sind 2, und doch gab es keine Kinder, von denen eins dem andern völlig gleich gewesen wäre in bezug auf Anlage, Aussehen, Gesicht und Figur. Dem Fatum, das hundert Jahre in Geltung war, ist es also nicht gelungen, [Kinder] mit einem [gleichen] Aussehen ins Leben zu rufen, wie es Blinde zu jeder Zeit hervorbrachte. —
11. „Adam zeugte den Seth nach seinem Gleichnisse und als sein Abbild 3 .“ Weil der Schöpfer sah, daß sein Abbild entstellt sei, hat er es nach sich umgestaltet und als Siegel sich ihm aufgeprägt, d. h. der allmächtige Schöpfer hat das Abbild, das entstellt war, nach sich umgeformt und hat seiner Häßlichkeit die frühere Schönheit aufgeprägt.
12. Seth war für seinen Vater gleichsam ein Spiegel, Adam sah sich selbst, da er in seinem Sohne abgebildet war, und auch Seth sah sein Bild im Bilde des Vaters. Wer hat den Sohn und sein Entstehen gesehen, daß einer im andern abgebildet war, einer den andern angezogen hatte? Mit dem Geheimnis [Typus] unseres Herrn und seines Vaters sind sie verbunden. —
13. Wenn also jemand die Frau eines Chaldäers geschändet, ihm den Beutel geraubt, sein Haus geplündert, seinen Tisch umgestoßen und seinen Krug ausgegossen hat, und wenn dieser nun für sich und seine Frau sich zu rächen sucht, macht er das Horoskop unbewußt und unbedacht hinfällig, da es lehrt, daß von ihm her die Ereignisse kommen.
14. Wenn er seinen Mund öffnet und die Lose [Wahrsagezettel] und Horoskope vorlesen will, so nimm S. 27 ihm sein Buch weg, zerreiße und zerfetze es, verlache und verspotte ihn und bedeute ihm, daß dieses nach seiner Lehre [so] geschehen müßte! Und wenn er an dich Forderungen stellt [Entschädigungen haben will], frage ihn, weshalb er verlangt, keinen Nachteil zu erleiden, und betrügt, um Gewinn einzuheimsen!
15. Siehe, wie die [Willens-] Freiheit sich für die ihr angetane Beleidigung rächt, indem sie sowohl das Geld zurückfordert als auch die ihr gebührende Stellung verlangt 4! In dem Augenblicke, wo sie dies fordern, machen sie das Horoskop hinfällig; gerade seine Lobredner machen es zuschanden, die, indem sie fordern, was Rechtens ist, die wilde Tollheit der Chaldäer, die verwirrte Worte ausgestreut haben, zur Ordnung zurückbringen.
16. Die wirren Söhne Babels versuchten unser Gehör zu verwirren 5. Einst wurde die Sprache in seiner Mitte verwirrt; Gaukler und Wahrsager versuchen nun wieder in ihm Verwirrung anzurichten; das Babel der Verwirrung verwirren sie nämlich. Wer sich und sein Gehör jenen hingibt, in dem tanzt und tobt und tollt eine Legion 6 [von Teufeln].
17. Heil dir, katholische Kirche, deren Augen nicht auf den Sternenlauf gerichtet sind, den Babel beobachtet, über welches der Prophet, der Sohn des S. 28 Arnos, lachte und oft spottete 7! Er spottete über die Irren, die es in die Irre geführt hatten. Der Stern der Wahrheit führte sie nach Bethlehem, damit die, die durch die Sterne zum Irrtum verleitet worden waren, durch den Stern das Leben erlangten.
18. Denn nicht jenen Irrtum des Fatums und des Horoskops sahen sie im Laufe jenes wandelnden Sternes, sie erkannten nämlich, daß die Natur und die Freiheit gestört sei; er lief gegen seine Natur, um uns zu belehren; er verkündete, daß nun aufgeleuchtet sei die Wahrheit auf der Erde, er brachte die frohe Botschaft, daß die Befreiung der Geschöpfe gekommen sei.
19. Deine Wahrheit, Herr, sei uns eine Festung, in der wir Zuflucht finden! Siehe, der Irrtum schleicht umher und greift uns mit allen Stacheln an; die Wahrsagerei möchte uns [wieder] zu Heiden machen, die Träumerei uns verführen. Reinige in deiner Quelle deine Kirche! Auch Lauf [Spur?] und Gegenlauf, Ruf 8 und Wort sind Schmutz des Heidentums, der viele befleckt.
20. Niemals sah ein Mensch ein Schiff mitten auf dem Meere, das allein umhertrieb und ohne Schiffer war, daß es sich selbst führte und leitete: wie Schiffe sind alle bedürftig; die Seele [bedarf] der Freiheit, die Schöpfung eines Schöpfers, die Kirche des Erlösers, der Altar des Heiligen Geistes.
In der römischen Ausgabe beginnt der 5. Hymnus mit Strophe 2, die als 1. gezählt ist, da der Zustand der zugrunde gelegten Handschrift ein Lesen der 1. Strophe unmöglich machte. ↩
Es ist hier wohl der Gedanke zu ergänzen: Und doch können sie sich nicht erinnern, Kinder gesehen zu haben, von denen eines dem andern völlig gleicht. ↩
Gen. 5,3.Die Ausführungen in Str. 9 und 10 über die Ungleichheit der Menschen verleiteten den Dichter zu einer biblischen Abschweifung, die eigentlich nur durch das äußerliche Moment der gewählten Worte mit dem Kerntext verbunden ist. ↩
Hier und am Schluß der vorhergehenden Strophe liebt es Ephräm, mit den verschiedenen Bedeutungen des Wortes t[h]ěbae zu spielen, wodurch allerdings die Gedankenfolge beeinflußt und die Übersetzung erschwert wird; die Ausdrücke, die ich mit: Forderungen stellen, fragen, verlangen, rächen, zurückfordern, wiedergegeben habe, sind alle von diesem Wortstamm gebildet. Ähnliche Spielereien wandte Ephräm in Str. 11 und 12 mit dem Worte těbae = abbilden, aufprägen, siegeln, an. ↩
Wiederum Wortspiele, die sich deutsch nicht wiedergeben lassen: Babel, balbel [verwirren] belîlâ [verwirrt], bûlbālâ [Verwirrung] ↩
Legion erscheint hier nach Mark. 5,9 und Luk. 8,30 als Bezeichnung der Teufel. ↩
Vgl. Jes. 13. 14. 46. 47. ↩
Das sind wohl Bezeichnungen für abergläubische Praktiken. ↩
