30. Brief des Papstes Leo an die Kaiserin Pulcheria.1
Einleitung
Um es erklärlich zu finden, dass der Papst sich in dogmatischen Angelegenheit auch an eine Frau wandte, muss man aus den damaligen Verhältnissen der byzantinischen Herrscherfamilie die große Bedeutung dieser Persönlichkeit kennenlernen. Nach dem Tode des Kaisers Arkadius war sein Sohn Theodosius d. J. schon im J. 408 in einem Alter von sieben bis acht Jahren Kaiser geworden; er war S. 213 und blieb gutmütig und fromm sein Leben lang; aber weit mehr Talent als er zeigte seine nur um wenige Jahre ältere Schwester Pulcheria, welcher der Senat wegen ihrer besonderen Klugheit schon im J. 414, als sie erst 16 Jahre zählte, den Titel Angusta verlieh und die Verwaltung des Reiches samt der Vormundschaft über ihren Bruder anvertraute. Sie vermählte den Letzteren im J. 421 mit Eudokia, der geistreichen und liebenswürdigen Tochter eines heidnischen Philosophen zu Athen, welche sie selbst für das Christentum gewonnen und des Thrones für würdig erachtet hatte, und beide trefflichen Frauen nahmen an allen kirchlichen wie politischen Angelegenheiten so großen Anteil und waren in so hohem Grade gebildet und einflussreich, dass schon der heil. Cyrillus von Alexandrien allen Grund hatte, die große theologische Frage aus Anlaß des Nestorianismus ihnen so nahe als möglich zu legen, indem er ihnen im Gegensatze zu den Irrlehren des Nestorius die richtige Lehre durch Stellen der heil. Schrift und der Väter in höchst ausführlicher Weise in ganzen Büchern auseinander setzte; in der Tat waren beide Frauen, insbeson Pulcheria, stets eine feste Stütze des Cyrillus und der Orthodoxie, so dass P. Leo später in einem (79.) Schreiben an Pulcheria sagte, dass durch ihre Tätigkeit insbesondere die nestorianische wie auch die eutychianische Häresie besiegt worden sei. An sie nun gab der Papst seinen zum Concil nach Ephesus reisenden Legaten gleichfalls ein Schreiben mit, worin er sie um ihre Mitilfe zur Ausrottung der Irrlehre ansucht. Nicht geringe Schwierigkeiten aber verursacht der Umstand, dass von diesem Schreiben zwei Recensionen, eine längere und eine kürzere, vorhanden sind, welcher die verschiedensten Lösungen fand. Quesnell selbst änderte seine Ansichten hierüber in den zwei Ausgaben der Werke Leo's; in der ersten erklärte er den einen Brief für eine einfache Erweiterung des anderen, in der zweiten sagt er, dass der längere Brief (unser 31.) sogleich nach Empfang des kaiserlichen Convocationsschreibens noch im Mai abgeschickt wurde, der kürzere (unser 30.) aber erst im Juni den S. 214 Legaten mitgegeben wurde.2
Die Ansicht der BalIerini3 ist folgende. Beide Schreiben sind von Leo abgefaßt, aber nur das kürzere ist in den Orient abgegangen, weshalb auch nur dieses in den griechischen Sammlungen in griechischer Übersetzung vorkommt, während das längere Schreiben nur in den Abendländischen enthalten ist; der Hauptunterschied zwischen beiden Briefen besteht darin, dass im 2. Kapitel und in der Hälfte des 3. im längeren Schreiben das dogmatische Moment ausführlicher behandelt ist, wonach die Ballerini vermuten, dass der Papst mit Rücksicht auf sein Schreiben an Bischof Flavianus, worin das Dogma gründlich definiert und erläutert ist, diese dogmatische Digression nachher im Briefe an die Kaiserin für überflüssig erachtet und ausgelassen habe, dass aber andererseits gerade der längere Brief wegen seines dogmatischen Inhaltes den Abendländern, welchen der Brief an Flavianus nicht zuging, von Bedeutung gewesen und daher bei ihnen verbreitet worden sei.4
Wir werden übrigens im 45. Briefe erfahren, dass keiner von diesen Briefen diesmal in die Händel der Kaiserin kam und der Papst deshalb später eine Abschrift des nun folgenden Briefes jenem 45. Schreiben beilegte.
Inhalt
*1. Dass Christus Mensch unseres Geschlechtes S. 215 sei. Die Irrtümer des Nestorius und Eutyches.
2. Dass, wenn die Wahrheit des Fleisches in Christus angegriffen wird, der ganze Glaube erschüttert werde.*
Baller. I. p. 847 u. II. p. 1436, Mansi V. p. 1397, bei Quesnell Num. 30 Cacciari II. p. 152, Num. 31. ↩
Baller. I. p. 843 u. II. p. 1437. ↩
I. p. 845 ↩
Walch (Ketzerhistorie Bd. VI S. 189 ff.) hält den längeren Brief für unecht; im Gegenteil behauptet Arendt in seiner Monographie ünber P. Leo (S. 483). Note 4), dass die größere Recension des Briefes (Num. 31) die echte, und die kleinere (Num. 30) nur ein Auszug daraus sei, welcher Ansicht auch Perthel in seiner Monographie (eig. Schmähschrift) über P. Leo (S. 61 Note 1) beitritt; Cacciari führt beide Briefe gesondert ohne weitere Bemerkung auf (unsern 30. als Nr. 31 u. unsern 31. als Num 28.); ebenso Maassen (Quell. d. K.-R. I. S. 262); Hefele (II. S. 365) entscheidet sich für keine bestimmte Ansicht. Wir führen nach dem Beispiele der Ballerini beide Recensionen auf. ↩
