43. Brief des Papstes Leo an den Kaiser Theodosius.1
Einleitung
Die bösen Ahnungen, welche der Papst in Betreff des ephesinischen Concils hegte, sollten sich in schauerliche Weise mehr als bestätigt erweisen, da nach Monaten banger Ungewissheit endlich gegen Ende September von den nach Ephesus entsandten Legaten der eine, Diakon Hilarus, nach Rom kam und über die auf der Räubersynode von Dioskorus und dessen Partei verübten Gewalttaten berichtete. Am 1. Oktober hielt Leo zum Jahrestage seiner Weihe eine zahlreichere Synode als gewöhnlich, zu welcher fast aus dem ganzen Abendlande Bischöfe zugegen waren. Die daselbst gefassten Beschlüsse lernt man aus einer Reihe von Briefen kennen, welche der Papst am und um den 13. Oktober in seinem oder seiner Synode Namen erließ und zwar an den Kaiser Theodosius, an die Kaiserin Pulcheria, S. 251 an den Bischof Anastasius von Thessalonich, an Julianus von Kos, an den Bischof Flavianus, dessen Tod zu Rom noch unbekannt war, an Klerus und Volk von Constantinopel und an die Archimandriten derselben Stadt.
Dass von dem Briefe des Papstes an den Kaiser Theodosius in den Sammlungen zwei Exemplare enthalten sind, welche dasselbe Datum tragen und einander nicht bloß den Gedanken, sondern auch den Worten nach, wenigstens wenn man den lateinischen Text derselben vergleicht, sehr nahe kommen, forderte stets den Scharfsinn der Gelehrten heraus; mit anderen erklärte auch Tillemont unseren 43. Brief für geradezu unecht, weil es schon an und für sich höchst unwahrscheinlich sei, dass der Papst in einer und derselben Angelegenheit an eine und dieselbe Person an einem Tage zwei Briefe gerichtet, da weiters jenes Eremplar offenbare historische Unrichtigkeiten und auch Lücken im Texte enthält. Quesnell2 wagt es nicht, unsern 43. Brief als unecht zu verwerfen; er meint, derselbe sei mehr eine unvollendete Skizze eines Briefes als ein fertiger Brief, es sei vielleicht jenes Eremplar des Briefes an den Kaiser, welches Leo dem (45.) Briefe an die Kaiserin Pulcheria beilegte, da er in demselben sagt, er sende ihr eine Kopie dieses Schreibens; Quesnell führt ihn daher als 39. Brief Leo’s auf, indem er es einem jeden überlässt, sich hierüber sein Urteil zu bilden. Die Ballerini3 endlich behaupten zunächst mit Recht, dass unser Brief keinesfalls für unecht gehalten werden könne, weil er neben dem folgenden (44.) nicht nur in der lateinischen chalcedonensischen Sammlung, welche vor der Mitte des 6. Jahrhunderts gemacht wurde, vorkommt, sondern auch in der griechischen chalcedonensischen, welche noch bei Lebzeiten des Papstes Leo zwischen den J. 453 und 455 veranstaltet wurde; sie berichtigen ferner einen bis dahin allgemeinen Irrtum bezüglich des lateinischen Textes unseres Briefes; derselbe galt nämlich allen S. 252 als das Original, was sie als falsch erklären, und beweisen hingegen, dass das lateinische Original unseres Briefes verloren gegangen sei, der vorhandene alte lateinische Text eine Übersetzung des griechischen nur an jenen Stellen sei, in welchen derselbe von dem 44. Briefe abwich, im übrigen großen Teile aber habe der Sammler einfach das lateinische Original des 44. Briefes in den Text des 43. Briefes herübergenommen; deshalb müsse man sich bei dem 43. Brief an den griechischen Text halten, weil derselbe hier die Stelle des verlorengegangenen Originals vertrete. Die Ballerini setzten demnach dem griechischen Terxe eine neue (wortgetreue) Übersetzung gegenüber und lassen die alte (sog.) Übersetzung hierauf folgen. Über die Tatsache endlich, dass Leo zwei so ähnliche Briefe an den Kaiser richtete, stellen sie folgende Vermutungen auf: Der Papst habe zuerst (einige Tage vor dem 13. Okt.) den 43. Brief (welcher in allen Sammlungen stets vor dem 44. steht) geschrieben, einige Tage später aber, nachdem die Überbringer desselben schon abgereist waren, habe er dasselbe Schreiben, mit einigen Abänderungen und Zusätzen nochmals durch andere Boten expedieren lassen, damit es in dieser zweiten Gestalt dem Kaiser überreicht, dessen erste Form aber, wo möglich, zurückgehalten oder widerrufen werde; in dieser zweiten Form habe er es auch seinem Briefe an die Kaiserin beigefügt; daher erkläre es sich, dass beide Briefe in den Orient gekommen und in die Sammlungen aufgenommen worden seien.4
Baller. I. p. 901 u. II. p. 1443, Mansi VI. p. 7, bei Quesnell Num. 34, Cacciari II. p. 174, Num. 40 (mit dem griech. Text und der alten latein. Version). ↩
Baller. II. p. 1443. ↩
I. p. 894. ↩
Rohrbacher (Kirchengesch. deutsch. Umarbeitung VIII. S. 180 n. 66) sagt: „An Kaiser Theodosius sandte er um dieselbe Zeit, am 13. Oktober, auf verschiedenen Wegen, wie es scheint, zwei wenig voneinander verschiedene Briefe. Vielleicht wollte er sich sicherstellen, wenn nur einer ankommen würde.“ ↩
