22.
In diesen Zusammenhang gehört jene andere Stelle, deren Mehrdeutigkeit Faustus in die Irre führt (p. 443,8; deut. 28,66): Du wirst dein Leben hängen sehen und nicht mehr an dein Leben glauben. Es mag jemand behaupten, dass diese Worte auch anders gedeutet werden können; dass es aber unmöglich sei, sie auf Christus hin zu deuten, das wagte nicht einmal Faustus zu behaupten, und auch in Zukunft wird das niemand zu behaupten wagen, es sei denn er leugne, dass Christus das Leben ist, oder dass die Juden ihn hängen sahen, oder dass sie ihm den Glauben verweigerten. Da aber Christus selber sagt (Joh. 14,6): Ich bin das Leben, und da ebenso unbestritten ist, dass er vor den Augen der Juden, die ihm den Glauben verweigerten, gehangen hat, sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Moses, von dem Christus sagte (Joh. 5,46): Jener hat nämlich über mich geschrieben, auch jenen Satz (deut. 28,66) im Blick auf Christus geschrieben hat. Wenn nun Faustus schon bei jenem Schriftwort (deut. 18,18): Ich werde ihnen einen Propheten aus dem Kreis ihrer Brüder erwecken, der ähnlich ist wie du, den Beweis versuchte (442,23 ff.), dass es nicht auf Christus hin gedeutet werden könne, da ja Christus dem Moses nicht ähnlich sei, und dabei völlig widerlegt wurde (455,16), was brauchen wir uns beim vorliegenden Schriftzeugnis nochmals abzumühen? Gewiss könnte Faustus, wie er damals zur Widerlegung jener Prophetie behauptete, Christus sei dem Moses gar nicht ähnlich, auch jetzt wieder zur Widerlegung dieser Prophetie behaupten, Christus sei nicht das Leben, und er habe nicht vor den Augen der Juden, die ihm den Glauben verweigerten, gehangen. Da nun aber weder er selber das behauptet hat, und auch heute kein Manichäer das zu behaupten wagte (cf. 464,13), wollen wir ohne Zögern auch diesen Satz (deut. 28,66) unter die Prophetien einreihen, die sein Diener über unseren Herrn und Retter Jesus Christus gemacht hat. Aber, so lautete das Gegenargument (443,12), dieser Satz steht doch in einer ganzen Reihe weiterer Verfluchungen. Ist er etwa deshalb keine Prophetie, da doch auch die andern Verfluchungen, in die er eingereiht ist, nichts anderes als Prophetien sind! Und ist er etwa deshalb keine Prophetie auf Christus, weil in jenem Text die unmittelbar vorangehenden und die folgenden Worte, wie es scheint, keinen Bezug auf Christus haben? Als ob den Juden eine schlimmere Verfluchung als Strafe für ihre dünkelhafte Ehrfurchtslosigkeit hätte widerfahren können, als ihr Leben, d.h. den Sohn Gottes, hängen zu sehen und nicht an ihr Leben zu glauben (cf. Deut. 28,66). Wenn nämlich Verfluchungen als Prophetie ausgesprochen werden, dann entspringen sie nicht den bösen Wünschen des Verfluchenden, sondern dem weissagenden Geist des Verkünders. Verfluchungen, die bösen Wünschen entspringen, werden ja durch die Worte (Rm. 12,14): Segnet und verflucht nicht! untersagt. Prophetische Verfluchungen dagegen finden sich häufig in der Rede der Heiligen. So sagte der Apostel (II Tim. 4,14): Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses erwiesen; der Herr wird ihm vergelten, wie es seine Taten verdienen. Bei jener andern Aussage des Apostels (Gal. 5,12): Möchten sich doch jene, die euch in Verwirrung bringen, gleich entmannen lassen, könnte zwar der Eindruck aufkommen, dass er voller Verärgerung und Entrüstung einen bösen Wunsch ausgesprochen habe. Wenn man allerdings die Person des Schreibenden berücksichtigt, wird man erkennen, dass er vielmehr damit in ganz feiner Doppeldeutigkeit etwas Gutes gewünscht hat. Es gibt nämlich Eunuchen, die sich um des Himmelreiches willen selber beschnitten haben (cf. Mt. 19,12). Genau das hätte Faustus auch aus jenen Worten (deut. 28,66) herausempfunden, wenn er die Speise des Herrn mit ehrfurchtsvollem Gaumen aufgenommen hätte. Für die Juden mochte jener Satz (deut. 28,66): Du wirst dein Leben (im Ungewissen) hängen sehen, und du wirst nicht mehr an dein Leben glauben, so geklungen haben, dass sie ihr eigenes Leben inmitten von Drohungen und Hinterhältigkeiten ihrer Feinde im Ungewissen schweben sahen, und nicht mehr recht daran glaubten, überleben zu können. Wenn dagegen ein Sohn des Evangeliums hört (Joh. 5,46): Jener hat nämlich über mich geschrieben, erkennt er in eben jener Mehrdeutigkeit der Aussage (deut. 28,66), was die Propheten den Schweinen vorwerfen, und welchen Wink sie den Menschen geben wollen, und vor seinem geistigen Auge erscheint sogleich der hängende Christus, der das Leben der Menschen ist, und die Juden, die eben deshalb nicht an ihn glauben, weil sie ihn hängen sehen. Zwar könnte ein Aussenstehender flugs einwerfen, so würde ja jene Aussage (28,66): Du wirst dein Leben (im Ungewissen) schweben sehen, und nicht mehr an dein Leben glauben, unter all den andern Verfluchungen jener Textstelle, die keinerlei Deutung auf Christus hin zulassen, als einzige sich auf Christus beziehen; es sei doch durchaus möglich, dass sich auch dieser Satz in den Rahmen der verschiedenen Verfluchungen einfügen lasse, welche dem gottlosen Volk in prophetischer Weise angekündigt wurden. Nun, ich und alle, die wie ich etwas gründlicher über jenen Satz, den der Herr im Evangelium gesprochen hat (Joh. 5,46), nachdenken – der ja nicht lautete: Jener schrieb nämlich auch über mich, sodass man glauben könnte, Moses hätte auch Dinge geschrieben, die keinen Bezug zu Christus haben, sondern: Jener schrieb nämlich über mich, sodass wir jene ganze Schrift systematisch daraufhin befragen müssen, in welcher Form die Gnade Christi darin zum Ausdruck kommt –, wir also erkennen auch in all den andern Verfluchungen jenes Textes Voraussagen, die auf Christus hinweisen. Dies hier im einzelnen auszuführen, würde allerdings zu weit führen.
